Neben den genannten Testungen kommt auch der Verhaltensbeobachtung sowie dem klinischen Eindruck – verbunden mit einer orientieren körperlichen Untersuchung – eine bedeutsame Rolle zu. Regelmäßig feststellbar sind bei betroffenen Patientinnen und Patienten u. a.:
- schmerzhafte Lymphknoten
- ein erhöhter Ruhepuls
- Blutdruckschwankungen
- Blässe (bei Schwerkranken z. T. auch ein leicht geschwollenes Gesicht)
- Schwitzen
- kalte Extremitäten (kalte Hände oder Füße)
- Muskelschwund
- Müdigkeit und Erschöpfungsneigung im Laufe
- einer Untersuchung
- ein reduzierter Allgemeinzustand
- eine psychische Belastung
Zu betonen ist, dass man nicht zu früh oder vorschnell auf die Diagnose CFS schließen darf. Diese steht vielmehr am Ende einer umfassenden und oft langwierigen interdisziplinären Differenzialdiagnostik, bei der v. a. folgende Diagnosen Berücksichtigung finden sollten:12
- chronische Infektionen wie Hepatitis oder Lyme-Borreliose
- Schilddrüsenerkrankungen wie Hashimoto Thyreoditis, Hypothyreose, Hyperthyreose
- Autoimmunerkrankungen wie Rheuma
- Tumorerkrankungen
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinsuffizienz
- neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Small-Fiber-Neuropathie
- Restless-Legs-Syndrom
- Schlafstörungen wie chronische Insomnie, obstruktive Schlafapnoe
- Magen-Darm-Erkrankungen wie Zöliakie oder Morbus Crohn
- psychische Erkrankungen wie Depressionen oder somatoforme Störungen
Es ist hierbei allerdings nicht praktikabel, sämtliche theoretisch infrage kommenden Differenzialdiagnosen zu prüfen, vielmehr sollte symptomorientiert unter Beachtung der Leitsymptomatik vorgegangen werden. Klagt eine junge Frau mit nicht abgeklärten Schilddrüsenwerten beispielsweise ohne erkennbare Ursache über stark ausgeprägte Müdigkeit und Gewichtszunahme, ist an eine Hashimoto-Erkrankung zu denken, welche zunächst im Labor abgeklärt werden sollte.
Sofern psychische Beschwerden geäußert werden, sollten selbstverständlich auch diese abgeklärt werden – verbunden mit der Frage, ob diese erst Folge einer möglichen CFS-Erkrankung sind oder nicht. Auch wenn beispielsweise nicht nur CFS, sondern auch Depressionen u. a. mit Müdigkeit und Erschöpfung einhergehen können, kann bereits darin eine Unterscheidung zum Chronic Fatigue Syndrom getroffen werden, dass beim CFS i. d. R. keine Motivations- und Antriebsstörung vorliegt. CFS-Betroffene wollen zumeist aktiv sein, doch geht Überlastung (z. B. durch Sport) mit einer Verschlechterung des Zustandes einher – während Depressive von aktivierenden Maßnahmen in der Regel profitieren, aber der Antrieb zu diesen fehlt.13
Fazit
Es gibt leider keinen spezifischen Test, um CFS nachweisen zu können. Allerdings steht eine Vielzahl an diagnostischen Instrumenten zur Verfügung, um CFS-typische Symptome objektivieren zu können. Zu beachten ist, dass die Diagnose CFS nicht vorschnell, sondern erst nach umfassender symptomorientierter Differenzial- und Ausschlussdiagnostik gestellt werden sollte.
Mythos 2: CFS kann durch mehr Schlaf geheilt werden.
Es gibt bislang leider keine kausale oder zumindest verlässlich wirksame Therapie für Betroffene des Chronic Fatigue Syndrom. Auch vermehrter Schlaf oder Erholung bewirken keine Symptomreduktion, zumal der Schlaf i. d. R. auch nicht als erholsam wahrgenommen wird.
Hauptproblem ist, dass es weiterhin nicht gelungen ist, eindeutige Ursachen für die Entstehung von CFS zu identifizieren, auf Basis derer man zielgerichtete Behandlungsmaßnahmen entwickeln könnte. Da CFS in der Mehrzahl der Fälle eine Infektion (z. B. mit SARS-CoV‑2 oder dem Epstein-Barr-Virus) vorausgeht,14 wird u. a. diskutiert, ob eine Infektion bleibende Veränderungen im Immunsystem und Darmmikrobiom auslöst, welche sich wiederum auf das Gehirn auswirken und dort eine Reduktion von Neurotransmittern bewirken. Das soll letztlich u. a. zu Störungen des autonomen Nervensystems – also dem Teil des Nervensystems, das für Abläufe im Körper zuständig ist, die man nicht mit dem Willen steuern kann (z. B. Atmung, Herzschlag, Stoffwechsel) – und zur Leistungsreduktion des Herz-Kreislauf-Systems führen.15 Dies ist aber nur eine Hypothese von vielen – zuletzt rückte v.a. auch die Rolle von Autoantikörpern sowie der Mitochondrien ätiologisch in den Fokus der Forschung.
Solange die Ursache für CFS nicht hinreichend geklärt ist, kann man lediglich symptomatisch behandeln, ohne aber eine Heilung erreichen zu können. Zwar werden eine Vielzahl an unterstützenden Begleitmaßnahmen diskutiert, doch sind auch hier die bisherigen Ergebnisse ernüchternd: Studien weisen darauf hin, dass sich weniger als 10 % der Betroffenen – zumeist handelt es sich um junge Erwachsene vor dem 40. Lebensjahr, wobei Frauen ca. zwei- bis dreimal so häufig von CFS betroffen sind wie Männer16,17 – vollständig von der Erkrankung erholen.18
Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) konnte in seinem Sachstandsbericht vom 17.04.2023 keine Wirksamkeitsbelege für eine spezifische medikamentöse Therapie feststellen.19 Auch psychotherapeutische Maßnahmen konnten nur als ergänzend sinnvoll eingestuft werden – konkret zur Unterstützung bei der Krankheitsverarbeitung, nicht aber zur Beseitigung der Grundsymptomatik.20 Vielversprechend zeigen sich (Stand November 2024) die Ansätze Immunadsorption, Sauerstoff-Hochdrucktherapie sowie eine medikamentöse Antikörpertherapie (Ocrelizumab, Inebilizumab).21
Stand jetzt empfiehlt sich eine interdisziplinäre Betreuung, wobei den hausärztlichen Behandelnden als zentrale Anlaufstellen gewissermaßen eine Lotsenfunktion für fachärztliche Überweisungen zur weiterführenden Diagnostik und Therapie zukommt. Letztlich müssen die unterstützenden Therapiemaßnahmen an die individuelle Symptomatik angepasst werden, wobei das sog. „Pacing“ im Zentrum der „Therapie“ steht. Die Anführungszeichen sind an dieser Stelle bewusst gesetzt, da es sich um ein Energiemanagement handelt, welches Betroffenen dabei helfen soll, in den eigenen und von Tag zu Tag variierenden Leistungsgrenzen zu bleiben, um eine Symptomverschlechterung durch die CFS-typische Belastungsintoleranz zu vermeiden. Ziel von „Pacing“ ist es nicht – anders als z. B. in klassischen Reha-Maßnahmen –, die Aktivität zu steigern, sondern auf die eigene Belastungsgrenze zu hören.22 Ausprobiert werden können darauf aufbauend ergänzende Maßnahmen, welche sich an der Symptomatik der Betroffenen orientieren. So können bei Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit beispielsweise eine individuell angepasste Ergotherapie oder ein neurokognitives Training, bei psychischen Beschwerden beispielsweise eine unterstützende kognitive Verhaltenstherapie in Erwägung gezogen werden.
Ein weiteres Problem für die Behandlung besteht darin, dass eine Chronifizierung oftmals schon eingetreten ist, bevor die Diagnose CFS überhaupt gestellt wurde. So legen internationale Studien nahe, dass bis zu 90 % der CFS-Betroffenen nicht oder fehldiagnostiziert sind23 und oftmals viele Jahre mit Fehldiagnosen und unzähligen ärztlichen Konsultationen auf diversen Fachgebieten vergehen, bis die Diagnose CFS gestellt wird.24 Nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass die Diagnose CFS bis heute höchst umstritten ist und auch ärztlich Behandelnde oft nur unzureichende Kenntnisse über das Krankheitsbild haben.25 Dies kann dazu führen, dass „standardmäßig“ Reha-Maßnahmen eingeleitet werden, welche statt einer Besserung eine Symptomverschlechterung bewirken, sofern die Belastungsgrenzen überschritten werden.
Hinzu kommt, dass es nur wenige spezifische Anlaufstellen für CFS-Betroffene gibt. Stand heute sind dies in Deutschland die Spezialambulanzen der Charité Berlin sowie der München Klinik, wobei sich Letztgenannte auf die Versorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen (primär aus Bayern) spezialisiert hat. Immerhin: Seit dem 01.07.2024 besteht ein telefonisches Beratungsangebot – keine medizinische Beratung – (kostenlose Hotline 0800/2381000) des Landes NRW mit der Deutschen Rentenversicherung Westfalen für die Betroffenen von Long- und Post-COVID, Post-VAC und ME/CFS.
Fazit
Weder kann CFS durch Schlaf geheilt werden, noch gibt es bislang überhaupt eine kausale Therapie. Letztlich kann man lediglich symptomorientierte unterstützende Maßnahmen unter Beachtung der individuellen Belastungsgrenzen anbieten, wobei die bisherige Versorgungsstruktur als unzureichend einzustufen ist. Es besteht aber Hoffnung auf eine kausale Therapie in den nächsten Jahren.
Mythos 3: Mit CFS ist man immer berufsunfähig.
Auch dieser Mythos trifft nicht pauschal zu, da die Frage nach Berufsunfähigkeit abhängig ist vom individuellen Berufsbild in qualitativer und quantitativer Hinsicht, vom Schweregrad des Krankheitsbildes sowie dem Umfang der hieraus resultierenden Funktionseinschränkungen.
Zunächst ist bei CFS-Betroffenen von einer starken Chronifizierungstendenz auszugehen, sodass sich die Symptome i. d. R. auch nicht in dem für die Leistungsprüfung relevanten Zeitrahmen von sechs Monaten bessern.26 Allerdings ist die klinische Ausprägung von CFS sehr heterogen und kann von leichten Einschränkungen bis zur Bettlägerigkeit reichen. Es wird geschätzt, dass circa 25 % der Betroffenen das Haus oder Bett nicht mehr verlassen können.27 Mehr als 60 % der Betroffenen seien arbeitsunfähig, wobei die Prognose v. a. bei mehr als zwei- bis dreijährigen Krankschreibungen als äußerst ungünstig einzustufen ist.28
Wichtig für die Leistungsprüfung ist mithin nicht nur die Frage, ob CFS vorliegt, sondern auch in welchem Schweregrad. Bewährt hat sich zur Schweregradeinteilung die frei zugängliche Bell-Skala, da auf Basis dieser eine detailliertere Beurteilung der Funktionseinschränkungen in 10er-Schritten von 0 bis 100 vorgenommen werden kann. Ein Wert von 100 entspricht dabei Symptomfreiheit, ein Wert von 0 einer schwersten Betroffenheit, bei der ein Patient bzw. eine Patientin dauerhaft ans Bett „gefesselt“ und pflegebedürftig ist.29
Frau Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen leitet die Immundefekt-Ambulanz der Charité Berlin und ist auf CFS spezialisiert. Sie hat zuletzt – wenn auch nicht spezifisch für die private Berufsunfähigkeitsversicherung, sondern die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung der DRV – einen Fachartikel über die ärztliche Begutachtung von CFS verfasst, welcher zur Lektüre empfohlen sei.30 Unter anderem äußert sie sich zu den funktionellen Einschränkungen in Abhängigkeit vom CFS‑Schweregrad:31
„Für leichter Erkrankte (ab Bell-Score 40) ist teilweise noch eine leichte Tätigkeit, die überwiegend sitzend und in flexibler Teilzeit ausgeführt werden kann, möglich. Vermieden werden sollten Tätigkeiten unter Zeitdruck, starker psychischer oder kognitiver Beanspruchung […]. Die Möglichkeit flexibler Arbeitszeit und selbst gewählter Pausen ist essenziell. Erhöhte Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen sollten vermieden werden. Daher sind Einzelarbeitsplätze, Home-Office, Rückzugsmöglichkeiten, flexible Pausen und gegebenenfalls zeitweise PC‑Arbeiten im Liegen günstig. Es muss die Möglichkeit geben, Pacing-Strategien, wie das individuelle Energie- und Aktivitätsmanagement, im Arbeitsalltag umzusetzen. Berufliche Teilhabe, ebenso Gleitzeitmodelle und Möglichkeiten der individuellen Arbeitszeitgestaltung sollten angestrebt werden.“
Wichtig ist dies insofern, da man nicht nur wertvolle Hinweise für wahrscheinliche Funktionseinschränkungen erhält, sondern auch die Aufklärung des außermedizinischen Sachverhalts in den Mittelpunkt gerückt wird. Hier gilt der alte Leitsatz „Beruf vor Medizin“. Gerade in Fällen mit Erschöpfungssymptomatik und grenzwertigem Schweregrad ist es äußerst wichtig, die berufliche Tätigkeit sowohl quantitativ als auch qualitativ detailliert aufzuklären. So macht es gewiss einen Unterschied, ob eine versicherte Person in Voll- oder Teilzeit tätig ist, körperlich tätig werden muss, aus dem Homeoffice arbeiten und sich Pausen einteilen kann, eine „stille“ Schreibtischarbeit oder eine stressige Tätigkeit mit Kundenkontakt zu verrichten oder gar Führungsverantwortung innehat.
Allerdings darf sich die Beurteilung der Schwere von Funktionseinschränkungen nicht alleine aus dem subjektiven Vortrag der versicherten Person ergeben. Vielmehr lautet das Zauberwort hier analog zur Überprüfung psychischer Erkrankungen „Plausibilitätsprüfung“, sodass der subjektive Vortrag mit Außenkriterien abzugleichen ist.
Zu Mythos 1 haben wir Ihnen oben bereits diagnostische Instrumente aufgelistet, mit denen eine Plausibilisierung gelingen kann. Berichtet die versicherte Person also beispielsweise über Belastungsintoleranz und muskuläre Erschöpfung, so ist zu fragen, ob sich dies z. B. auch in einer Handkraftmessung abbildet. Darüber hinaus ist es zur Plausibilitätsprüfung essenziell, den Tagesablauf einer Person zu erfragen, um beurteilen zu können, ob sich die für den Beruf geltend gemachten Einschränkungen – und dies wäre zu erwarten – auch im Alltag zeigen. Sofern Bettlägerigkeit vorgetragen wird, sollte die gesamte Wohn- und Versorgungssituation überprüft werden. Dies beginnt beim Nahrungsmitteleinkauf und endet bei der Frage, ob Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Gehhilfen zum Einsatz kommen und ein Pflegegrad festgestellt wurde (falls nein, warum nicht?).
Eine Internetrecherche ist darüber hinaus ebenso sinnvoll wie die Frage nach einem sekundären Krankheitsgewinn. Relevant kann dazu u. a. sein, ob zuletzt ein viel höheres berufliches Einkommen erzielt wurde, als BU‑Leistungen abgesichert sind. Ein weiteres wichtiges Puzzleteil für die Plausibilitätsprüfung ist, ob sich die Schwere des Beschwerdevortrags auch in der Intensität therapeutischer Maßnahmen widerspiegelt. Wenn eine versicherte Person beispielsweise einen „Ärztemarathon“ mit Selbstzahlerleistungen in Kauf nimmt, kann dies ein deutlicher Hinweis auf einen ausgeprägten Leidensdruck sein und den subjektiven Vortrag stützen.
Wenn Sie mehr über die Plausibilitätsprüfung primär subjektiver Beschwerden erfahren wollen, lohnt ein Blick in die frei zugängliche AWMF-Leitlinie 051‑029.32 Diese wurde zwar für psychische Störungsbilder konzipiert, das grundsätzliche Vorgehen ist aber auch bei subjektiv beklagter Fatigue-Symptomatik zielführend, für welche daher bei Ausschluss organischer Ursachen der beklagten Symptome eine umfassende (d. h. zeitlich mehr als zweistündige) Begutachtung auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet nebst testpsychologischer Untersuchung als das Mittel der Wahl erscheint – wobei die Sachverständigen vor Beauftragung nach Erfahrungen in der Diagnostik von CFS sowie dem Einsatz der gängigen Instrumente (Handkraftmessung etc.) befragt werden sollten.33 Insgesamt empfiehlt sich aus unserer Sicht in der Vergabe von Gutachten bei CFS ein zurückhaltendes Vorgehen.
Wenngleich die Fallzahlen von CFS-Betroffenen infolge der COVID‑19-Pandemie zugenommen haben dürften und manche Studien eine Verdopplung der Fallzahlen zum präpandemischen Zeitraum schätzen,34 rechnen wir mit keiner „Welle“ an Leistungsanträgen wegen CFS. So wäre die Fallzahl selbst bei Verdopplung des geschätzten Ausgangswertes von ca. 70.000 bis 220.000 Betroffenen der deutschen Erwachsenenbevölkerung35 noch vergleichsweise gering. Zur Einordnung: Es gibt in Deutschland ca. 250.000 MS‑Patientinnen und Patienten. Zudem wäre diese Zahl nochmals nach CFS-Schweregrad abzustufen und es müssten auch selektive Effekte hinsichtlich der Population derer, die eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen bei entsprechender Vorselektion im Underwriting, berücksichtigt werden.
Fazit
Man kann ohne umfassende Sachverhaltsaufklärung nicht pauschal den Schluss ziehen, dass CFS automatisch mit Berufsunfähigkeit einhergeht. Zentral sind insbesondere die Berücksichtigung des CFS-Schweregrads sowie eine Plausibilitätsprüfung. Mit einer massiven Zunahme an Leistungsanträgen wegen CFS ist in den nächsten Jahren nicht zu rechnen.