Portugal als Sonderfall
Der portugiesische Referenzrahmen bezieht ausdrücklich chronische Krankheiten in das Recht auf Vergessen mit ein und formuliert, dass „im Falle eines erhöhten Gesundheitsrisikos oder einer gemilderten Behinderung […] nach zwei Jahren ununterbrochener wirksamer Behandlung keine medizinischen Informationen mehr eingeholt werden [können]“. Allerdings gibt es noch keinen definierten Referenzrahmen, an dem sich die Versicherer bei der Anwendung des Gesetzes orientieren könnten.
Der portugiesische Verband der Versicherer (Associação Portuguesa de Seguradores, APS) hat nach dem Vorbild Luxemburgs und Belgiens eine Tabelle für Krebserkrankungen mit guter Prognose und Hepatitis C erstellt. Dennoch bleibt die Vorgehensweise bei anderen Erkrankungen wie Diabetes und HIV unklar, was zu Unsicherheiten bei den Antragstellern und den Versicherungsgesellschaften führt.
Jüngste Entwicklungen
Während die ersten Anfänge des Gesetzes recht klar und begrenzt waren, sind die jüngsten Entwicklungen des Rechts auf Vergessen weitreichender.
Obwohl die passende Umsetzung des Gesetzes unklar bleibt, weitet die portugiesische Version das Recht auf Vergessen auf chronische Krankheiten nach einer „wirksamen und kontinuierlichen Behandlung über zwei Jahre“ aus.
In Frankreich wurde die Gesetzgebung zum Recht auf Vergessen zum 1. Oktober 2022 erneut angepasst: Eine HIV‑Infektion wird nun nicht mehr mit einem maximal möglichen Zuschlag versehen, sondern muss von der Risikoprüfung vollständig ignoriert werden, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind.8 Außerdem wurde Anfang des Jahres 2022 der Zeitraum des Rechts auf Vergessen für alle Altersgruppen auf maximal fünf Jahre verkürzt und die medizinische Risikoprüfung für Darlehensversicherungen mit einer Versicherungssumme von bis zu 200.000 EUR grundsätzlich abgeschafft.8
Als Neuheit hat der belgische Versicherungsverband Assuralia seine Mitglieder auf einen Verhaltenskodex verpflichtet, der das Recht auf Vergessen auf die „Guaranteed Income Insurance“ ausweitet, eine Invaliditätsversicherung, die bei längerer Krankheit oder Invalidität die Differenz zwischen dem normalen Gehalt und dem öffentlichen Sozialversicherungssystem ausgleicht.7
Im Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen und die absehbare Umsetzung des Rechts auf Vergessen in weiteren Ländern wollen wir in diesem Artikel die Auswirkungen des Gesetzes für die Versicherungswirtschaft kommentieren und diskutieren. Darüber hinaus ist es unser Ziel, eine Basis für einen gemeinsamen Dialog zwischen Vertretern aus Politik, Patientengruppen und Versicherungswirtschaft zu schaffen, um eine konsensuale Regelung für Länder zu erreichen, welche die Umsetzung des Rechts auf Vergessen oder eine Erweiterung bestehender Gesetze planen.
Um das Risiko abzuschätzen, dem die Versicherer durch das Recht auf Vergessen ausgesetzt sein mögen, geben wir im Folgenden einen Überblick – einerseits über das Krebsrisiko im Allgemeinen mit Schwerpunkt auf dem langfristigen Sterberisiko, andererseits darüber, wie sich das Recht auf Vergessen auf das Portfolio eines Versicherers auswirken könnte.
Teil II: Langfristiges Krebsrisiko
Die Anzahl der Krebsüberlebenden steigt
Die Anzahl der Menschen, die nach einer Krebsdiagnose leben, wird als Anzahl prävalenter Fälle bezeichnet. Sie hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen und erreicht in mehreren Ländern etwa 5 % der Gesamtbevölkerung.22 Dieser Trend wird mit einer steigenden Zahl neuer Krebsdiagnosen (vor allem aufgrund der Bevölkerungsalterung) sowie erhöhten Krebsüberlebensraten aufgrund von besserer Krebsvorsorge und ‑behandlung begründet.
Im Jahr 2020 gab es in Europa etwa 20 Millionen Krebsüberlebende, von denen etwa ein Drittel im erwerbsfähigen Alter23 und somit auch potenzielle Kandidaten für den Abschluss eines Versicherungsschutzes sind. Zu dieser wachsenden Gruppe von Menschen gehören Krebspatienten, die sich aktuell in Behandlung befinden, sowie Patienten, die sich in Remission befinden, d. h., die krebsfrei geworden sind, aber immer noch ein messbar erhöhtes Risiko für eine Rückkehr des Krebses oder eine erhöhte Sterblichkeit haben, und zuletzt Patienten, die als geheilt gelten, da sie die gleiche Sterblichkeitsrate wie die Allgemeinbevölkerung erreicht haben.24
Im Rahmen des Rechts auf Vergessen werden alle Krebsarten fünf oder zehn Jahre nach Abschluss der Behandlung ohne Risikoprüfung und somit als Normalrisiko angenommen. Wie wird sich das Recht auf Vergessen auf das Portfolio der Versicherer auswirken, wenn risikoausgleichende Maßnahmen nicht mehr möglich oder nur noch für bestimmte Arten von Versicherungsschutz zulässig sind? Haben Krebsüberlebende noch eine signifikant erhöhte Sterblichkeit, wenn sie zehn Jahre und länger krebsfrei waren? Im Folgenden präsentieren wir dazu Ergebnisse aktueller medizinischer Studien.
Verschiedene Krebserkrankungen haben sehr unterschiedliche Prognosen
Die Lebenserwartung und die Überlebensrate variieren sehr stark zwischen den verschiedenen Krebsarten und sind abhängig von vielen Faktoren, wie z. B. dem Alter des Patienten, dem diagnostizierten Krebsstadium und der durchgeführten Krebstherapie. Zwei wichtige Indikatoren der Krebssterblichkeit sind die Cure Fraction (Heilungsrate) und die Time to Cure (Zeit bis zur Heilung). Die Cure Fraction beschreibt den Anteil der Krebspatienten, der die gleiche Sterblichkeit wie die Allgemeinbevölkerung erreicht. Die Time to Cure spiegelt die Anzahl der Jahre wider, die vergehen, bis sich die Sterblichkeit der Krebspatienten der Sterblichkeit der Normalbevölkerung angeglichen hat.25
Krebserkrankungen mit sehr guter Prognose und kurzer Time to Cure
Es gibt mehrere Krebsarten, die eine besonders gute Prognose haben, wenn sie in einem frühen Stadium diagnostiziert werden. Dazu gehören beispielsweise Hodenkrebs und Schilddrüsenkrebs mit einer Cure Fraction von 94 % bzw. 98 % und einer Time to Cure von weniger als einem Jahr nach Diagnose.25
Krebserkrankungen dieser Gruppe können heute eher als chronische Krankheiten und nicht als Todesurteil angesehen werden, sodass es legitim ist, sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu „vergessen“, als in den jeweiligen Referenzrahmen definiert ist.
Krebserkrankungen mit einem vernachlässigbaren Langzeitrisiko
Eine weitere Gruppe von Krebserkrankungen wurde identifiziert, für welche die krebsbedingte Übersterblichkeit in weniger als zehn Jahren vernachlässigbar klein wurde. Dies ist beispielweise bei Patienten unter 45 Jahren mit Hodgkin-Lymphom, Hautmelanom und Gebärmutterhalskrebs der Fall.24 Außerdem sinkt z. B. für Darmkrebspatienten und jüngeren Patienten mit Magenkrebs die Übersterblichkeit innerhalb von zehn Jahren nach der Diagnose auf ein vernachlässigbares Niveau.24
Bei dieser Gruppe von Krebserkrankungen scheint die Sterblichkeit nach zehn Jahren im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nicht signifikant erhöht zu sein, weshalb es legitim sein sollte, sie zehn Jahre nach Abschluss der Behandlung zu „vergessen“.
Krebserkrankungen, die viele Jahre nach der Diagnose wieder auftreten
Es gibt Krebsarten, bei denen ein signifikantes Risiko des Wiederauftretens oder des Todes auch noch später als zehn Jahre nach der Diagnose besteht. Dazu gehören beispielsweise Lungenkrebs mit einer Time to Cure von mehr als zehn Jahren, Brustkrebs mit einer Time to Cure von zehn bis 17 Jahren oder Blasenkrebs mit einer Time to Cure von 18 bis 20 Jahren.24,25
Diese Gruppe von Krebserkrankungen ist für die Versicherer im Rahmen des Rechts auf Vergessen relevant, da die krebsbedingte Sterblichkeit auch zehn Jahre nach der Diagnose noch erhöht ist.
Spätfolgen von Krebstherapien
Auch Jahre oder Jahrzehnte später können gesundheitliche Einschränkungen als Folge einer Krebstherapie auftreten. Diese werden als Spätfolgen bezeichnet. Krebsüberlebende können je nach Art der Behandlung anfälliger für die Entwicklung einer weiteren bösartigen Erkrankung (Sekundärmalignom) oder anderer chronischer Erkrankungen sein. Darunter sind Schilddrüsenstörungen, Diabetes, neurologische Komplikationen, Leberversagen, Nierenerkrankungen oder Herzversagen die häufigsten.26
Eine kürzlich durchgeführte Studie untersuchte die Spätfolgen von Krebstherapien über einen Zeitraum von 20 Jahren bei Kindern und jungen Erwachsenen, deren Diagnose vor dem 25. Lebensjahr stattfand. Darin zeigte sich, dass das Ausmaß der Spätfolgen insbesondere vom Krebstyp, dem sozioökonomischen Status, der Therapiedauer und der Therapieform beeinflusst wird. Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatten die Krebsüberlebenden ein deutlich höheres Morbiditätsrisiko, welches unabhängig von der primären Krebsdiagnose und dem sozioökonomischen Status war.26
Dies ist für die Population des Rechts auf Vergessen sehr relevant, da zehn Jahre vergangen sein werden, wenn diese Altersgruppe das typische Alter für die Beantragung einer Lebensversicherung in Verbindung mit einer Kreditabsicherung erreicht. Die Spätfolgen einer Krebsbehandlung dürfen zwar in der Risikoprüfung berücksichtigt werden, die ursprüngliche Krebserkrankung jedoch nicht. Dies ist eine Herausforderung für die tägliche Arbeit der Risikoprüfer in den jeweiligen Ländern, in denen das Recht auf Vergessen bereits in Kraft getreten ist.
Wie hoch ist die krebsbedingte Sterblichkeit nach zehn Jahren tatsächlich?
Im Folgenden wollen wir der Frage nachgehen, wie hoch die Übersterblichkeit aller Krebsarten zusammengenommen zehn und mehr Jahre nach Diagnose tatsächlich noch ist. Diese Betrachtung ist für Lebensversicherer besonders relevant, da beim Recht auf Vergessen die Risikoprüfung nach einer bestimmten Zeit entfällt und somit alle Krebsarten als Normalrisiko ins Portfolio der Versicherer gelangen.
a. Medizinische Studien
Es gibt nur wenige aktuelle Studien, welche die Überlebensraten aller Krebsarten zusammengenommen untersuchen. Die Autoren einer italienischen Studie an Krebspatienten im Alter von 45 bis 80 Jahren, welche über einen Zeitraum von 28 Jahren nach ihrer Diagnose beobachtet wurden, kommen zu dem Schluss, dass „die langfristige Lebenserwartung von Krebspatienten sich der Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung annähert, diese aber nur selten erreicht“.28
Eine andere Studie an schwedischen Krebspatienten, bei denen die Diagnose im Alter von 60 Jahren gestellt wurde und welche 17 Jahre lang nach der Diagnose beobachtet wurden, zeigte, dass Krebspatienten in den ersten Jahren nach der Diagnose eine erhöhte Sterblichkeitsrate im Vergleich zur Gesamtbevölkerung aufwiesen, welche sich fünf bis zehn Jahre nach der Diagnose dem Sterblichkeitsniveau der Gesamtbevölkerung annäherte, es aber auch 17 Jahre nach der Diagnose noch immer nicht erreicht hatte.27
Die langfristig erhöhte Sterblichkeit von Krebsüberlebenden kann auf Krebsrezidive, Sekundärmalignome und Spätfolgen der Krebsbehandlung zurückgeführt werden.27,28 Darüber hinaus kann das Fortbestehen von Lebensgewohnheiten, die möglicherweise zur Entstehung von Krebs beigetragen haben (z. B. Rauchen und ungesunde Ernährung), die Überlebensrate der Patienten langfristig weiter verringern.27,28
Die krebsbedingte Übersterblichkeit wurde in den oben genannten Veröffentlichungen jedoch nicht quantifiziert. Um das Risiko abzuschätzen, dem die Versicherer im Rahmen des Rechts auf Vergessen ausgesetzt sind, haben wir nachfolgend Daten aus dem US‑Krebsregisterprogramm Surveillance, Epidemiology and End‑Results (SEER) aus den Jahren 2000 bis 2018 analysiert.29
b. Versicherungsmathematische Überlegungen: Berechnung der relativen Sterblichkeit von Krebspatienten bis 18 Jahre nach der Diagnose
Da die Versicherer unter dem Recht auf Vergessen keine Information zur Krebsart erhalten, betrachten wir das Sterberisiko für alle Krebsarten zusammengenommen. Dafür haben wir die relative Sterblichkeit von Krebspatienten, die in den Jahren 2000 bis 2018 diagnostiziert wurden, mithilfe von Daten aus der SEER-Datenbank berechnet.29 Die relative Sterblichkeit ist das Verhältnis der sogenannten beobachteten Sterblichkeit von Krebspatienten zur sogenannten erwarteten Sterblichkeit der Allgemeinbevölkerung und dient daher als ein Maß für die Übersterblichkeit von Krebspatienten. Die statistische Analyse wurde mit der Software R, Version 4.0.2, durchgeführt. Zur Bestimmung der Signifikanz wurde ein Tukey-Test und eine Bonferroni-Korrektur für Mehrfachtests angewendet. Weitere Einzelheiten zu den Datenextraktionsmethoden und statistischen Analysen sind auf Anfrage erhältlich.
Die relativen Sterblichkeiten in Abhängigkeit vom Jahr nach Diagnose sind in Abbildung 3 für verschiedene Altersgruppen dargestellt. Es ist wichtig zu beachten, dass die X‑Achse die Jahre nach der Diagnose angibt und nicht die Jahre nach dem Ende der Behandlung, welche für das Recht auf Vergessen relevant sind. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Krebsbehandlung in der Regel etwa zwei Jahre dauert, sind für uns die Zeitpunkte sieben und zwölf Jahre nach der Diagnose besonders wichtig. Sie sind wegen der fünf und zehn Jahre nach Behandlungsende die relevanten Zeitpunkte für das Recht auf Vergessen.
Abbildung 3: Relative Sterblichkeit für alle Krebsarten zusammengenommen*29
Im Zeitraum von ein bis 18 Jahre nach der Diagnose für verschiedene Altersgruppen mit logarithmisch skalierter Y‑Achse. Die relative Sterblichkeit gibt die Übersterblichkeit von Krebspatienten im Verhältnis zur Bevölkerungssterblichkeit an (gestrichelte schwarze Linie).