Die Niederlande sind der erste Mitgliedstaat der EU, der die Verbandsklagenrichtlinie der EU in nationales Recht umgesetzt hat. Am 1. November 2022 hat der niederländische Senat ein entsprechendes Gesetz angenommen.1
Die im Dezember 2020 in Kraft getretene EU‑Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher – auch bekannt als EU-Sammelklagenrichtlinie – muss von den Mitgliedstaaten bis zum 25. Dezember 2022 in nationales Recht umgesetzt werden. Die neuen Regelungen müssen ab dem 25. Juni 2023 angewendet werden. Das niederländische Umsetzungsgesetz soll am 15. Juni in Kraft treten.
Ziel der europäischen Verbandsklage ist die Stärkung des Verbraucherschutzes und eine weitere Harmonisierung des Binnenmarkts. Außerdem sollen Wettbewerbsverzerrungen zwischen gesetzestreuen und gesetzesuntreuen Unternehmen bekämpft werden. Im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie gibt die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum. Es bleibt spannend, wie die einzelnen Mitgliedstaaten diesen Spielraum nutzen und wie weit sie über die Mindestanforderungen der Richtlinie hinausgehen.
Während es in Deutschland erst seit Ende September 2022 einen Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums gibt, der sich derzeit in der Ressortabstimmung befindet, haben die Niederlande die Richtlinie bereits umgesetzt – als bisher einziges Land in der EU.
Der vorliegenden Beitrag wirft einen Blick auf das neue Gesetz in den Niederlanden sowie die ersten Erfahrungen damit.
WAMCA
Bereits im Jahr 2019 hatte das niederländische Parlament ein Gesetz über Sammelklagen verabschiedet, das am 1. Januar 2020 in Kraft trat: WAMCA – Wet afwikkeling massaschade in collective actie.2 Das WAMCA erfüllte bereits viele Anforderungen der Richtlinie. Durch das Umsetzungsgesetz wird das WAMCA daher nur marginal geändert und – von einigen Ausnahmen abgesehen – auch nur im Hinblick auf Sammelklagen, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen.
Wichtigste Neuerung ist die Möglichkeit, im Rahmen einer Sammelklage direkt Schadensersatz verlangen zu können. Das bisherige Instrument für den kollektiven Rechtsschutz, das sog. WCAM3 (Wet collectieve afwikkeling massaschade) aus dem Jahr 2005 sah lediglich vor, dass das Gericht eine rechtswidrige Unternehmenspraxis feststellt und die Parteien in einer zweiten Phase einen Kollektivvergleich vor dem Berufungsgericht in Amsterdam schließen.
Anwendungsbereich
Die EU‑Richtlinie beschränkt den Anwendungsbereich der Verbandsklageverfahren auf bestimmte Verbraucherschutzbestimmungen des EU‑Rechts (einschließlich der nationalen Umsetzungsgesetze), die in Anhang 1 der Richtlinie aufgelistet sind.4 Die Niederlande gehen darüber hinaus: Der Anwendungsbereich wurde auf alle Rechtsbereiche ausgedehnt und schließt damit z. B. auch Klimaschutzklagen und Klagen gegen Menschenrechtsverletzungen mit ein.
Dies ermöglichte u. a. die Klimaschutzsammelklage einer NGO (Vereniging Milieudefensie et al.) gegen Royal Dutch Shell Plc. im Mai 2021 vor dem Bezirksgericht Den Haag, die international Aufsehen erregte. Der Shell-Konzern wurde verpflichtet, die CO2‑Emissionen seiner Aktivitäten bis Ende 2030 um netto 45 % zu reduzieren; diese Reduktionsziele umfassen auch Emissionen seiner Lieferanten und Abnehmer.
Neben dem sachlichen wurde auch der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie, der nach Erwägungsgrund 15 und Art. 2 Abs. 1 RL explizit nur Verbraucher betrifft, vom niederländischen Gesetzgeber auf Unternehmen ausgeweitet.
Klagebefugnis
Der EU-Gesetzgeber hat sich für ein Verbandsklagesystem entschieden. Klagebefugt sind damit nur sogenannte qualifizierte Einrichtungen (also Verbände oder öffentliche Einrichtungen), die von den Mitgliedstaaten benannt werden.
Die Richtlinie unterscheidet zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Verbandsklagen. Wichtigste Auswirkung dieser Unterscheidung sind die unterschiedlichen Voraussetzungen, die an die qualifizierte Einrichtung, also die klagebefugten Stellen, gestellt werden.
Bei innerstaatlichen Verfahren, also Verbandsklagen, die von einer qualifizierten Einrichtung in dem Mitgliedstaat erhoben werden, in dem die qualifizierten Einrichtung benannt wurde, können die Mitgliedstaaten eigene Kriterien aufstellen (Art. 3 Nr. 6 RL). Zulässig sind auch Ad‑hoc-Benennungen, d. h. auch Verbände, die erst anlässlich und ausschließlich für einen bestimmten Massenschadenfall und nur für dessen Abwicklung gegründet werden.
Die Niederlande haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Bei Verbandsklagen außerhalb des Heimatlandes, sog. grenzüberschreitenden Verbandsklagen, sind qualifizierte Einrichtungen nur dann klagebefugt, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen (Art. 3 Nr. 7 RL). Die Vorgaben für die Benennung von qualifizierten Einrichtungen für grenzüberschreitende Verbandsklagen sind vollharmonisiert (Art. 4 Abs. 3 RL).
Die qualifizierte Einrichtung muss hier strengere Kriterien erfüllen:
- Sie muss nachweislich 12 Monate zum Schutz der Verbraucherinteressen tätig gewesen sein.
- Sie muss einen gemeinnützigen Charakter aufweisen.
- Sie darf keinen Erwerbszweck verfolgen.
- Sie muss unabhängig von Drittparteien sein, also nicht unter dem Einfluss von Personen stehen, die ein wirtschaftliches Interesse an der Erhebung einer Verbandsklage haben.
Wir kann sich der Verbraucher einer Verbandsklage anschließen?
Eine der wesentlichen Fragen im kollektiven Rechtsschutz betrifft die Ausgestaltung der Beteiligungsmöglichkeiten von Verbrauchern. Was müssen sie unternehmen, um Teil der Verbandsklage zu sein? Zu unterscheiden ist hier zwischen dem sog. Opt‑in- und dem Opt‑out-Modell: Beim Opt‑in muss sich der Verbraucher explizit der Klage anschließen, beim Opt‑out ist er automatisch Teil der Klage, sofern er von dem in Rede stehenden Sachverhalt betroffen ist und sich nicht ausdrücklich gegen seine Teilnahme an der Klage ausspricht.
Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten die Wahl, ob sie das Opt‑in‑, das Opt‑out-Modell oder eine Kombination vorsehen. Auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt ein Beitritt erfolgen muss, kann von den Mitgliedstaaten unterschiedlich gestaltet werden. So sieht Erwägungsgrund 47 auch eine Beteiligung nach Erlass der Abhilfeentscheidung vor. Lediglich für nicht im Forumstaat ansässige Verbraucher verlangt die Richtlinie ein Opt‑in.
Die Niederlande haben sich für die Personen, die ihren Wohnsitz in den Niederlanden haben, für ein klägerfreundliches Opt‑out entschieden, mit der Folge, dass die Anzahl der beteiligten Verbraucher größer und damit die Streitwerte bzw. Schadensersatzzahlungen für die beklagten Unternehmen höher sein werden.
Prozessfinanzierung
Angesichts der Komplexität und des Umfangs von Sammelklagen können sie kostspielig und riskant sein. Bei langwierigen Sammelklagen entstehen dem Kläger leicht Kosten in Millionenhöhe. Um dieses Kostenrisiko aufzufangen und den Zugang zum Recht, insbesondere bei Streuschäden, zu verbessern, erlaubt die Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen, dass die qualifizierten Einrichtungen Mittel von Drittfinanzieren annehmen (Art. 10 RL).
Der niederländische Gesetzgeber lässt Drittfinanzierer unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen – insbesondere müssen Interessenkonflikte vermieden werden und Finanzierer dürfen keinen Einfluss auf das Verfahren nehmen – zu.
Da Drittfinanzierer auch vor Inkrafttreten des WAMCA zulässig waren, sind die Niederlande bereits seit einigen Jahren für Prozessfinanzierer attraktiv. Zurzeit sind schätzungsweise ca. 30 Prozessfinanzierer zur Finanzierung von Sammelklagen tätig, Tendenz steigend. Auch die Zahl von US-amerikanischen (Kläger‑)Kanzleien, wie Scott + Scott und Hausfeld, die in den Niederlanden Büros eröffnen, nimmt seit einigen Jahren zu. Generell ist davon auszugehen, dass der Markt für die Drittfinanzierung von Rechtsstreitigkeiten in den nächsten Jahren wächst. Der derzeitige EU‑Markt wurde im März 2021 auf EUR 1 Mrd. geschätzt; er dürfte in den nächsten fünf Jahren auf mindestens EUR 1,6 Mrd. anwachsen.5
Zentrales öffentliches Register
Mit Inkrafttreten des WAMCA wurde ein zentrales Register für Kollektivklagen eingerichtet, in das alle anhängigen Sammelklagen eingetragen werden.6 Zwischen Februar 2020 und Oktober 2022 wurden dort 54, darunter auch internationale Klagen registriert. Zu beachten ist, dass 25 der im Jahr 2021 insgesamt registrierten 39 Sammelklagen nicht auf Schadensersatz gerichtet waren.
Die Arten von Sammelklagen, die in diesem Jahr (2022) registriert wurden, illustrieren die Bandbreite der Rechtsgebiete, die vom neuen Verbandsklagerecht abgedeckt wird:
- Gemeinwohl‑/Menschenrechtsklagen gegen den niederländischen Staat wegen Diskriminierung (vier Fälle)
- Klagen wegen Verstößen gegen geistiges Eigentum (vier Fälle)
- Klagen zur Durchsetzung von Verbraucherrechten (Dieselklagen; drei Fälle)
- Klagen wegen Verstöße gegen den Datenschutz / GDPR im Namen von Verbrauchern (zwei Fälle: Oracle und Salesforce)
- Klagen wegen arbeitsrechtlicher Ansprüche (ein Fall)
Als Trend zeichnet sich über die letzten Jahre die Zunahme wettbewerbsrechtlicher Klagen und Klagen im Zusammenhang mit Wertpapierstreitigkeiten ab. Beispiele aus dem Bereich des Wettbewerbsrechts sind Klagen nach Wettbewerbsverstößen in den Märkten für gasisolierte Schaltanlagen, Spannstähle, Luftfracht, Wasserstoffperoxid, Aufzüge und Rolltreppen, Natriumchlorat, Paraffinwachs und Lkw. Ein weiterer Trend im Rahmen des WAMCA sind Klagen, die nach Art. 3:305a (6) des niederländischen BGB einen ideellen Zweck verfolgen und nicht auf finanzielle Entschädigung abzielen. Für diese Klagen gelten weniger strenge Zulassungsvoraussetzungen. Hierzu zählen die o. g. Klagen wegen Diskriminierung und Verletzung geistigen Eigentums.
Bis heute gab es wenige Sammelklagen, die allein auf Schadensersatz abzielten. Hierunter fallen die Sammelklage gegen Fortis/Ageas, die Anlegern durch den Abschluss eines Vergleichs im Juli 2018 eine Entschädigung von insgesamt ca. EUR 1,3 Mrd. einbrachte sowie die (noch immer anhängigen) Klagen gegen VW, Mercedes, Fiat Chrysler, Peugeot und Citroën.
Verglichen mit anderen Mitgliedstaaten, in denen es kollektive Rechtsschutzinstrumente gibt, ist die Zahl der Sammelklagen in den Niederlanden deutlich höher. Aber auch in diesen Ländern steigen die Zahlen kontinuierlich. Entsprechend erhöhen sich die Prozessrisiken für Unternehmen und die Kosten für Versicherer.
Fazit
Da das WAMCA erst seit 2020 in Kraft ist und viele Verfahren noch anhängig sind, kann man noch nicht abschätzen, inwieweit das neue Instrument die damit verbundenen Erwartungen erfüllt und wie es sich auf Verbraucher, Unternehmen und Versicherer auswirkt. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich die Bedingungen für die kollektive Rechtsdurchsetzung und den Zugang zur Justiz verbessern werden.
Das WAMCA sieht eine verpflichtende Vergleichsphase vor, damit möglichst viele Verfahren durch einen Vergleich beendet werden, der sodann auch für das beklagte Unternehmen zu Rechtssicherheit führt. Andererseits stehen Unternehmen in Anbetracht der Kosten, der negativen Publicity und auch des Zeitaufwands, der mit der Verteidigung gegen eine Sammelklage verbunden ist, unter einem erheblichen Druck, selbst dann einen Vergleich abzuschließen, wenn der vorgebrachte Anspruch in materieller Hinsicht schwer durchsetzbar ist.
Angesichts der bestehenden niederländischen Infrastruktur für Sammelklagen (Niederlassungen internationaler Prozessfinanzierer und US-amerikanischer Klägerfirmen), der liberalen Haltung der niederländischen Gerichte (mit der Möglichkeit, Verfahren in englischer Sprache zu führen) und der ausgewogenen neuen Regelung für Sammelklagen mit der erleichterten Zulässigkeitsregelung für ideelle Ansprüche ist in den kommenden Jahren von einer weiteren Zunahme von Sammelklagen auszugehen. Damit könnten die Niederlande zu einem bevorzugten Gerichtsstand für EU-Verbandsklagen werden. Es bleibt abzuwarten, wie und mit welchen Auswirkungen andere Länder die Richtlinie umsetzen.