Eine weitere wichtige und nicht zu vernachlässigende Kopfschmerzart ist der Kopfschmerz, der auf einen Medikamentenübergebrauch zurückzuführen ist (MOH = medication overuse headache). Ein MOH kann durch die Einnahme von zu vielen Schmerzmedikamenten bei vorbestehenden primären Kopfschmerzen wie einer Migräne entstehen. Von einem Übergebrauch spricht man bei der Einnahme von Kopfschmerz-Akutmedikation an mindestens 10 bzw. 15 Tagen (je nach Medikament) pro Monat. Eine Besserung der Kopfschmerzen erfolgt in der Regel durch das Absetzen der übergebrauchten Medikation und dem möglichen Austausch von Akut- zu Präventionsmedikation.4
Therapie der Migräne
Die verbreitetste Therapie der Migräne ist die medikamentöse Therapie. Akut wird eine Migräne-Attacke mit Schmerzmitteln wie Ibuprofen, Acetylsalicylsäure (Aspirin) oder Paracetamol behandelt.6 Diese Analgetika können einzeln oder auch in Kombinationspräparaten, die oft auch Koffein enthalten, eingenommen werden. Eine andere akute pharmakologische Therapie besteht in der Gabe von Triptanen. Triptane sind spezifische Migräne-Medikamente, die empfohlen werden, wenn eine andere Schmerzmedikation nicht wirksam (genug) ist oder Patienten unter sehr schweren Migräne-Attacken leiden. In der Akutmedikation ist es bedeutend, dass die Medikamente frühzeitig in einer Kopfschmerzphase eingenommen werden, um bestmöglich wirken zu können. Auch kann es empfehlenswert sein, starke Übelkeit und Erbrechen medikamentös zu behandeln (z. B. mit Metoclopramid, Domperidon). Sollte die medikamentöse Akuttherapie nicht ausreichen, gibt es verschiedene pharmakologische Präventivtherapien, u. a. die Behandlung mit Betablockern, Antikonvulsiva, Antidepressiva und Botox-Injektionen.6 Seit einigen Jahren werden außerdem monoklonale Antikörper zur Migräne-Prophylaxe verwendet (z. B. Erenumab, Eptinezumab).6,7 Diese werden in der Regel in einem Abstand von mehreren Wochen als Injektion verabreicht und richten sich gegen CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) bzw. den CGRP-Rezeptor. CGRP spielt in der Pathophysiologie der Migräne eine wichtige Rolle, da davon ausgegangen wird, dass – vereinfacht gesagt – bei einer Migräne vermehrt CGRP ausgeschüttet und so unter anderem eine entzündliche Reaktion ausgelöst wird. Von einem Therapieerfolg spricht man, wenn die durchschnittlichen Migräne-Tage pro Monat um 50 % reduziert werden können.6
Neben der medikamentösen Akut- und Präventivmedikation kommen auch nicht medikamentöse Therapien zur Anwendung. Nennenswert sind hier u. a. verschiedene Entspannungsverfahren, wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, Biofeedback-Therapien und regelmäßiger Ausdauersport.6 Auch gibt es Hinweise auf die Wirksamkeit von Akupunktur während einer Migräne-Attacke sowie einer transkutanen Stimulation des Nervus trigeminus mit Reizelektroden, die oberhalb des Auges angebracht werden.6
Zuletzt ist Selbstmanagement der Betroffenen für die Behandlung der Migräne entscheidend.8 Selbstmanagement umfasst den adäquaten Umgang mit den Folgen und Veränderungen des Lebens durch eine chronische Erkrankung und die Lebensstilanpassung, die dadurch nötig wird.9 Bei Migräne umfasst das unter anderem die Vermeidung bzw. Reduzierung von Triggern, also Faktoren, die Migräne-Attacken auslösen können. Prominente Migräne-Trigger sind zum Beispiel Stress, physikalische Reize wie Lärm oder starke Gerüche, Hunger und unerholsamer Schlaf.10
Migräne und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit
Die sozioökonomischen Kosten aufgrund von Migräne sind nicht zu unterschätzen. Das liegt daran, dass die Arbeitsfähigkeit bei Migräne-Betroffenen stark eingeschränkt sein kann. Durchschnittlich fehlen Migräne-Patienten im Jahr 4,4 Tage aufgrund von Migräne. Weitere 11,4 Tage arbeiten sie mit stark reduzierter Produktivität (< 50 % der sonstigen Produktivität).11
Insbesondere Menschen mit chronischer Migräne (also mindestens 15 Kopfschmerztagen pro Monat) sind stark in ihrem Arbeitsleben eingeschränkt. So verdienen diese in der Regel weniger, sind eher teilzeitbeschäftigt und häufiger arbeitsunfähig.12,13,14 Außerdem gaben mehr als ein Drittel der Migräne-Patienten mit chronischer Migräne an, gewisse Karriereschritte aufgrund ihrer Migräne nicht gemacht zu haben.15
Migräne-Patienten fällt es häufig schwer, Aktivitäten wie Lesen, Schreiben oder Sprechen während einer Migräne-Attacke adäquat am Arbeitsplatz durchzuführen.16 Auch können Schwierigkeiten beim Problemlösen oder Autofahren auftreten17 – Aufgaben, die häufig im Arbeitsleben relevant sind. Nicht zuletzt erhalten stark betroffene Migräne-Patienten nicht selten aufgrund ihrer immensen Beeinträchtigung durch ihre Erkrankung einen Grad der Behinderung (GdB).18
Einflussfaktoren am Arbeitsplatz auf Migräne
Um die Arbeitsfähigkeit von Migräne-Patienten zu verbessern, ist es sinnvoll, einen möglichst migränefreundlichen Arbeitsplatz zu schaffen. In einer großen europäischen Umfrage wurden unter anderem Migräne-Betroffene gefragt, was ihre Arbeitgeber tun könnten, damit Migräne-Patienten besser am Arbeitsplatz mit ihrer Erkrankung zurechtkommen. Die Befragten wünschten sich unter anderem mehr Möglichkeiten, von zu Hause zu arbeiten, mehr Privatsphäre am Arbeitsplatz zu haben sowie weniger soziale Interaktion und mehr Verständnis von Vorgesetzten zu bekommen.19
Eine Stigmatisierung von Migräne am Arbeitsplatz kann dazu führen, dass Betroffene ihre Symptome am Arbeitsplatz verstecken,20 was wiederum zu einem erhöhten Stresslevel und einer höheren Migräne-Frequenz führen kann. Eine Entstigmatisierung der Migräne als ernst zu nehmende neurologische Erkrankung kann also dabei helfen, sich als Betroffener zu öffnen und ein Umfeld mit nachhaltigen Ressourcen aufzubauen.
Verlauf einer Migräne
Migräne ist eine chronische Erkrankung, für die es bisher keine evidenzbasierte Heilung gibt. Eine Migräne kann jedoch spontan sistieren oder sich im Laufe des Lebens in ihrer Symptomatik und Frequenz verbessern bzw. verändern. Insgesamt ist die Prognose individuell sehr unterschiedlich und kann von einer Remission der Migräne bis zu einer Verschlechterung der Symptomatik reichen. Eine schlechtere Prognose scheint mit einer anfänglich hohen Migräne-Frequenz und einem jungen Alter bei Diagnosestellung assoziiert zu sein.21
Auch das Vorliegen von Komorbiditäten kann die Prognose und die Kopfschmerzfrequenz bei Migräne bestimmen. So gibt es Evidenz dafür, dass unter anderem eine komorbide Depression oder Angststörung sowie entzündliche Erkrankungen wie Psoriasis oder Allergien die Migräne-Prognose ungünstig beeinflussen können.15,22 Weitere negative prognostische Faktoren bei Migräne sind ein Medikamentenübergebrauch, Adipositas, körperliche Inaktivität und Nikotinkonsum.23,24
Die zuletzt genannten sind modifizierbare Faktoren. Es kann also möglich sein, mit einem effektivem Selbstmanagement und einer adäquaten Therapie langfristig gut mit einer Migräne zurechtzukommen.
Bedeutung für die Risikoprüfung
Für die Risikoprüfung bezüglich der Versicherbarkeit von Migräne-Betroffenen, insbesondere in Hinsicht auf eine Berufsunfähigkeit, sollten verschiedene Aspekte beachtet werden. Entscheidend ist unter anderem, Informationen bezüglich der Frequenz der Migräne und dadurch ausgelöste Fehltage bei der Arbeit einzuholen. Des Weiteren sollte auf einen möglichen Medikamentenübergebrauch bzw. ‑missbrauch sowie Komorbiditäten (wie depressive Episoden, Angststörungen, Adipositas) geschaut werden. Auch können vergangene oder geplante Rehabilitationsmaßnahmen sowie bereits gestellte Anträge auf einen Grad der Behinderung (GdB) oder eine Erwerbsminderungsrente auf einen ungünstigen Migräne-Verlauf hinweisen.
Neben den Migräne-Charakteristika empfiehlt es sich, den Beruf des Antragstellers im Blick zu haben, insbesondere hinsichtlich möglicher Migräne-Trigger am Arbeitsplatz. So können beispielsweise unregelmäßige Arbeitszeiten durch Schichtdienst ein typischer Migräne-Auslöser sein.
In Tabelle 2 findet sich eine Zusammenfassung der Fragen, die Risikoprüfende stellen sollten, wenn Migräne in einem Antrag für eine Berufsunfähigkeitsversicherung auftaucht.
Tabelle 2 – Diese Fragen sollten Risikoprüfende bei Migräne stellen.