Kein Ereignis der letzten Jahrzehnte hat die Gesellschaft so maßgeblich beeinflusst wie die Covid‑19-Pandemie. Waren die Auswirkungen in diversen Branchen und Geschäftsbereichen existenzbedrohend, stellte sich die Situation in der Kfz‑Versicherung völlig konträr dar: Die gravierenden Lebenseinschränkungen, vor allem der Mobilität, führten zu Rekordergebnissen der deutschen Kraftfahrt-Versicherer. Allein das erste Covid‑19-Jahr 2020 generierte versicherungstechnische Erträge in Höhe von 13,5 % der Prämieneinnahme, in Euro sind dieses beachtliche knapp 4 Mrd. Hinzu kommen mehr als EUR 2 Mrd. aus dem vergangenen Jahr 2021, die trotz sehr hoher Elementarschäden als Überschuss verblieben.
Sind diese Erfolgszahlen nun ein Grund, sich entspannt zurückzulehnen? Mitnichten, denn ein Blick auf kommende Herausforderungen und sich abzeichnende Entwicklungen offenbart die Fragilität der jüngsten positiven Zahlen.
Wie entwickelt sich Mobilität nach Covid‑19?
Vor der Pandemie waren das Verkehrsaufkommen und die Schadenhäufigkeit verlässlich einschätzbar. Die Schadenhäufigkeit ist in den letzten 30 Jahren nahezu linear um ca. 40 % zurückgegangen, was einem durchschnittlichen jährlichen Rückgang von 1,3 % pro Jahr entspricht. Diese Langzeitentwicklung wurde durch Covid‑19 unterbrochen: Allein im Jahr 2020 gingen die KH‑Schäden gegenüber 2019 um 18 % zurück, 2021 waren es sogar 22 % weniger KH‑Schäden als 2019. Klar sollte sein, dass ein erneuter pandemischer Schub, verbunden mit der Wiedereinführung restriktiver Maßnahmen, zu weiteren Reduktionen in ähnlichen Größenordnungen führen dürfte. Bereits bekannt ist, dass auch das laufende Jahr 2022 im ersten Quartal erheblich und im zweiten Quartal gemäßigt durch Covid‑19 beeinflusst wird.
Aber wie ist die zukünftige Schadenhäufigkeit ohne einen weiteren pandemischen Rückfall einzuschätzen? Denn nach vorherrschender Meinung wird es kein vollständiges Zurück in die „alte Welt bis 2019“ geben. Homeoffice(quoten) und virtuelle Geschäftstermine könnten auch dauerhaft jede x‑te Fahrt der „alten Welt“ einsparen und so zu einer dauerhaften Schadenentlastung der Kraftfahrt-Versicherung führen. Hinzu kommen ökologische und politische Unwägbarkeiten, die deutliche Verteuerungen beim Treibstoffbezug nach sich ziehen – auch hier stehen die Zeichen eher auf einem Rückgang der absolvierten Gesamtfahrleistung. Dabei ist die bevorstehende Elektrifizierung des Fuhrparks (mit einer zu erwartenden Zunahme an versicherten Risiken) und der technologische Fortschritt der Fahrzeuge (mit unfallverhindernder Assistenz) noch nicht einmal eingerechnet. Zwar bleibt die „Vision Zero“ sicherlich auch in den nächsten Jahr(zehnt)en eine Utopie, aber der Weg dorthin schreitet unvermindert weiter fort – und dies wahrscheinlich mit einer höheren Geschwindigkeit als in den letzten 30 Jahren.
Welche Auswirkungen hat die Inflation auf die Kfz‑Versicherung?
Sowohl die Pandemie als auch die darüber hinaus gehende gesellschaftliche Veränderungsdebatte zielen primär auf eine Prognose zukünftiger Schadenhäufigkeiten ab. Die Teuerungsrate der Schadenzahlungen hingegen zeigte sich relativ unbeeindruckt von pandemischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Zwar lag diese in den letzten Jahren stets oberhalb der Inflationsrate, war aber mit 3 % bis 4 % pro Jahr kalkulatorisch gut beherrschbar. Bereits in den letzten Jahren wurde diese Robustheit der Schadeninflation bedingt durch Chip-Mangel, fehlende Fahrzeugverfügbarkeiten bis hin zu massiven Störungen von Lieferketten immer wieder auf den Prüfstand gestellt. Spätestens mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und der damit verbundenen Unsicherheiten steigen jedoch in nahezu allen Bereichen die Preise stark an. Erstmals seit den 1970er-Jahren liegt die Verbraucherinflation oberhalb von 7 %. Damit stellt sich zunehmend die Frage, welche Bestandteile dieses starken Preisanstiegs in die Regulierung von Kfz-Versicherungsschäden überführt werden. Klar dürfte sein, dass ein Anstieg oberhalb von 4 % direkt eine Minderung der versicherungstechnischen Ergebnisse nach sich zieht, da kein Marktteilnehmer diese Entwicklung zu Beginn des Jahres vorhersehen und in die Preisgestaltung einarbeiten konnte. Naturgemäß ist eine Versicherungsbranche, die ein mindestens einjähriges Leistungsversprechen „unter Vorkasse“ ausspricht, sehr anfällig gegenüber sich kurzfristig ändernden Inflationsgegebenheiten.
Wie schnell eine hohe Inflation drastische Auswirkungen auf die Ergebnisse haben könnte, zeigen einige Szenario-Berechnungen: Würde sich beispielsweise die Schadenhäufigkeit im Jahr 2022 am vorpandemischen Niveau von 2019 orientieren und eine Schadeninflation von +6 % für 2022 unterstellt, würde der Gewinn von über EUR 2 Mrd. aus 2021 sofort in einem Verlust gleicher Höhe gespiegelt werden (berechnete Schaden-Kostenquote 107,5 %). Selbst ein für 2022 eingerechneter halbjähriger Pandemie-Effekt analog der Jahre 2020 und 2021 würde 6 % Schadeninflation nicht ausgleichen, auch in dieser Modellrechnung verbliebe ein Verlust von ca. EUR 400 Mio. (Schaden-Kostenquote 101,5 %).
Zusammenfassend ist die zukünftige Ertragssituation in der Kfz-Versicherung derzeit allein durch aktuarielle Expertise nur unscharf prognostizierbar. Vielmehr bedarf es der zusätzlichen Einbeziehung virologischer-, volksökonomischer- bis hin zu politikwissenschaftlicher Expertise, um ein ganzheitliches Bild von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen generieren zu können. Sehr hilfreich dürfte ein engmaschiges, realtime-orientiertes Controlling der Geschäftsverläufe sein, um möglichst schnell notwendige Änderungen in der Geschäftsausrichtung antizipieren zu können.
Ist Telematik die Zukunft der Kfz‑Versicherung?
Telematik begleitet die Kfz-Versicherung schon seit geraumer Zeit, sei es in Theorie, in Forschungs- und Entwicklungsfeldern oder auch in operativen Produktansätzen. Das Aufkommen der Pandemie hat diesen Produktansatz wieder stärker in den Fokus der medialen Berichterstattung gerückt, da mittels telematischer Komponenten eine automatische Anpassung des Versicherungspreises an eine veränderte Fahrzeugnutzung erfolgen kann. Teilweise wurde sogar prognostiziert, die Pandemie könnte der Telematik zum endgültigen Durchbruch verhelfen.
Zum Für und Wider von Telematik wurde bereits in zahlreichen Publikationen umfangreich Stellung bezogen.1 Dabei gilt es objektiv festzuhalten, dass der Durchbruch telematischer Versicherungslösungen bisher ausgeblieben ist. Beide Marktführer bieten ihren Kunden seit 2016, also seit nunmehr sechs Jahren, entsprechende Produkte an. Obwohl diese technisch funktionieren und dem Kunden erhebliche Einsparpotenziale bieten, liegt der Verbreitungsanteil in den jeweiligen Portfolios bei knapp 4 %. Nicht einmal jeder zwanzigste Kunde konnte innerhalb der sechsjährigen Angebotsphase für die Telematiklösung gewonnen werden. Weitere Marktanbieter, die allerdings teilweise mit diesem Angebot noch keine sechs Jahre auf dem Markt sind, liegen mit der Portfolioverbreitung weit unter den genannten 4 %. Die bisherigen Produktangebote scheinen somit eher zielgruppenspezifische Kunden anzusprechen und weniger die Gesamtheit aller Kunden. Speziell kleinere und mittlere Gesellschaften sollten diese selektive Kundenakzeptanz bei ihrer unternehmerischen Entscheidung hinsichtlich Telematik berücksichtigen – ansonsten laufen sie Gefahr, eine aufwendige Infrastruktur für nur wenige tausend Kunden aufzubauen.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich (fast) alle Protagonisten einig sind, mit den bisherigen App- und Beacon-Lösungen nur eine Übergangstechnologie zu entwickeln bzw. anzubieten. Der große Durchbruch wird von vielen Marktteilnehmern erst mit dem Bezug von Daten direkt aus dem Fahrzeug heraus erwartet. Mit dieser These verbinden sich allerdings weitere Herausforderungen – und damit eine direkte Überleitung zum nächsten Themenkomplex.
Wird die Kfz-Versicherung der Zukunft zu einem Add‑on bzw. Annex des Fahrzeugs?
Auch diese Frage begleitet den Versicherungsmarkt schon länger, denn Kooperationen zwischen Fahrzeugherstellern und Versicherern im Hinblick auf eine „integrierte Versicherungslösung“ bestehen schon seit Jahrzehnten – mit ausbalancierten Marktanteilen. Deshalb wird ein drohender signifikanter Rückgang des „freien und unabhängigen“ Kfz-Versicherungsgeschäfts auch von vielen Marktteilnehmern belächelt, schließlich hängt das Damoklesschwert schon lange Zeit über diesem.
Die Versicherungsbranche selbst ist allerdings dabei, die gefundene Balance zwischen Fahrzeugherstellern und Versicherungsschutz auszuhebeln, indem sie die Fahrdaten als zukünftiges Schlüsselmerkmal der Versicherungstechnik deklariert. Bisher konnte Versicherungsschutz ohne „Mithilfe“ von Herstellern angeboten werden, bei der Verwendung telematischer Fahrparameter kippt diese Unabhängigkeit hingegen. Auch wenn aufgrund der Sicherstellung eines freien Wettbewerbs allen Versicherern ein diskriminierungsfreier Datenzugang eingeräumt würde, verbliebe der Schlüssel durch die originäre Datenerzeugung in den Händen der Hersteller. Damit besteht die große Gefahr, dass diese als Datengenerator über bessere, genauere und umfangreichere Daten verfügen. Weiterhin scheint nur schwer vorstellbar, dass aus Fahrzeugsystemen heraus generierte monetäre Produktlösungen vollständig an der originären Hersteller-Wertschöpfungskette vorbeiziehen. Zumindest die Gefahr einer sogenannten Embedded Insurance-Lösung dürfte deutlich ansteigen.
Ein weiterer wichtiger Grund, sich mit integrierten Versicherungslösungen auseinander zu setzen, besteht in der technologischen Weiterentwicklung von Fahrzeugen. Auch wenn das vollautonome Fahrzeug noch nicht unmittelbar vor der Tür steht, nimmt die Verbreitung teilautonomer Systeme sukzessive zu. Damit einher geht die versicherungstechnisch signifikante Frage, welche dieser Systeme wann, wo und in welcher Fahrsituation vom Fahrer eingesetzt bzw. aktiviert werden. Überhaupt stellt sich die Frage, ob die zunehmende Verbreitung teilautonomer Fahrfunktionen versicherungstechnisch nicht viel relevanter ist als die Beurteilung des Fahrers. Sofern Fahrzeuge mehr und mehr in der Lage sind, vermeintliche Fehlverhalten der Fahrer zu korrigieren und bei Unfällen aktiv einzugreifen, wären bisherige telematische Versicherungskonzepte obsolet. Der versicherungstechnische Schlüssel einer Risikobewertung liegt zukünftig eher in der Fahrzeugtechnik als in den Händen des Fahrers.
Verändert Elektromobilität nur die Antriebsart?
Sowohl politisch als auch gesellschaftlich scheint unbestritten: Der Fuhrpark der Zukunft fährt elektrisch! Derzeit verdoppelt sich die Anzahl an Fahrzeugen mit Elektroantrieb Jahr für Jahr und wird noch in diesem Jahr die 1 Mio.-Grenze deutlich überschreiten. Viele Hersteller haben das Ende ihrer Verbrenner-Modellreihen für den Zeitraum zwischen 2030 und 2035 beschlossen, sodass die Kfz-Versicherung von emissionsfreien Fahrzeugen künftig zum Standard wird.
Erste Erfahrungen mit diesem neuen Antrieb zeigen speziell in der Kaskoversicherung deutliche versicherungstechnische Verluste. Dies liegt zum einen an der Rabattpolitik vieler Häuser, die damit die „Nachhaltigkeit“ ihres versicherten Fuhrparks verbessern möchten, andererseits aber auch an fehlenden Zuschlägen für erhöhte Batterieschäden. Speziell letztgenannte Komponente könnte zu einem größeren Problem für die Kfz-Versicherer mutieren, da der Austausch von Batteriekomponenten bis zu 50 % des gesamten Fahrzeugwerts veranschlagt. Mit zunehmender Verbreitung von Elektrofahrzeugen werden Batterieschäden auch sukzessive in die Haftpflicht-Versicherungskomponente Einzug halten, da die Kollisionswahrscheinlichkeit mit einem Elektrofahrzeug steigt.
Bei den Batterieschäden geht es nicht nur um spektakuläre Brandschäden, die aufwendige Lösch-, Lagerungs- und Entsorgungsvorgänge verursachen – diese Komponente ist aufgrund einer geringen Eintrittswahrscheinlichkeit noch am besten versicherungstechnisch darstellbar. Vielmehr geht es um die Vielzahl auftretender „normaler“ Kollisionsschäden, in denen sich jeweils die Frage stellt, ob die Batterie in Mitleidenschaft gezogen wurde. Derzeit kann lediglich der Hersteller eine zuverlässige Aussage hierüber tätigen und nimmt damit eine Schlüsselposition im gesamten Regulierungsprozess ein. Sollte dieser einseitig festlegen können, wann eine Batterie ausgetauscht werden muss, könnte dies sowohl den freien Werkstattmarkt als auch die seitens der Versicherungsindustrie entwickelten Werkstattbindungskonzepte erheblich auf den Prüfstand stellen. Letztlich liefert ein derartiges Szenario für Batterieschäden einen weiteren Baustein, ganzheitliche Lösungen für Fahrzeuge inklusive deren Absicherung zu fördern. Unabhängige Kfz-Versicherer hingegen laufen große Gefahr, den Alterungs- und Sanierungsprozess der Fahrzeugbatterien auf Kosten ihrer Versicherungsgemeinschaft einseitig teuer zu bezahlen.
Fazit: Es gibt viel zu tun, packen Sie es an!
Selbstverständlich bestehen auch außerhalb dieser fünf genannten Herausforderungen zahlreiche weitere Aufgabenstellungen, um erfolgreiches Kfz-Versicherungsgeschäft künftig sicherzustellen. Allein die ausgeführten Punkte reichen aber aus, den erheblichen Handlungsbedarf aufzuzeigen. So schön die jüngsten Geschäftszahlen auch aussehen – sofern nicht mit großer Kraftanstrengung den bereits vorhersehbaren Entwicklungen begegnet wird, drohen der deutschen Kraftfahrt-Versicherung ungemütliche Zeiten.
Endnote
- Morawetz, Der telematische Irrweg, 2016, ZfV 2016, 68 ff. und https://www.genre.com/knowledge/publications/2016/april/kfz1603‑de; Morawetz, Die Zukunft der Kfz‑Versicherung: Schöne neue Welt?! ZfV 2016, 766 ff. und https://www.genre.com/knowledge/publications/2017/december/kfz1712‑de.