Besonders große Hoffnungen der Lebensmittelindustrie liegen auf der Herstellung von Produkten, die in Geschmack und Textur dem Fleisch möglichst nahe kommen oder dieses vollständig ersetzen können. Dabei hat man besonders die große Gruppe der Flexitarier im Visier.
Zur Herstellung dieser Produkte werden pflanzliches Protein, Proteinkonzentrat oder Proteinisolat verarbeitet. Dabei ist eine sehr genaue Temperatur- und Zeitsteuerung im Verarbeitungsprozess notwendig, um die gewünschte Textur und Fülle zu erzielen. Weiterhin werden zur Wasserbindung Stärken und pflanzlichen Hydrokolloide sowie zur Emulgierung von zugegebenem Pflanzenfett (z. B. Sonnenblumen- oder Kokosöl) u. a. Johannisbrot- und Guarkernmehl oder Xanthan und Carrageen zugesetzt. Weitere Zusatzstoffe sind geschmacksgebende und färbende Zutaten wie Gewürze, Salz, Inosinate, Dextrose und ähnliche Zuckerstoffe, Hefe, Aromen, Rote-Bete-, Johannisbeersaft bzw. Anthocyane und Beta-Carotine. Weiterhin werden oft Ascorbinsäuren bzw. Acerolakirsche zum Farberhalt und für das typische Fleischrot, z. B. mineralisches Eisenoxid, zugegeben. Weitere häufig zu findende Zusatzstoffe sind Geschmacksverstärker, Konservierungsmittel, Bindemittel, Vitamine und Mineralien, Verdickungsmittel, Texturgeber, Emulgatoren, Lipide, Backtriebmittel, Stabilisatoren und andere Farbstoffe.
Verwendete Technologien
Die Rezepturen für vegetarische und vegane Lebensmittelprodukte erfordern umfangreiche Feinabstimmungen und Hochleistungsanlagen, damit tierische Produkte in Geschmack, Textur, Aussehen und Kochfunktion im industriellen Maßstab nachgebildet werden können. Hierbei unterscheiden sich die verwendeten Technologien im Grundsatz nicht wesentlich von denen der Fleischindustrie.
Zum Einsatz kommen u. a.:
- Kutter und ähnliche Maschinen (wie in der Fleischwarenindustrie zur Herstellung der pflanzlichen Massen)
- Intensivmischer, um strukturbildende und andere Stoffe mit der Wasserphase unter Zusatz von Pflanzenfett, Gewürzen und weiteren Zusatzstoffen zu vermischen
- Vakuumabfüller, um Lufteinschlüsse zu vermeiden
- Koch- und Erhitzungsanlagen, um die Funktionalität der Zutaten und Zusatzstoffe sowie die mikrobiologische Sicherheit zu erreichen
- Extruder zur Herstellung von fibrösem Sojafleisch bzw. texturiertem Sojaprotein (isoliertes und entfettetes Eiweiß wird durch Doppelschnecken unter hohem Druck und hohen Temperaturen aufgeschlossen, und es bilden sich grobporige Trockenextrudate). Für die Herstellung von Produkten mit weniger schwammartiger Mikrostruktur (Proteinschmelze bei 50 bis 60 °C und Druck) kommen dabei Nassextruder (Hochfeuchtigkeitsextruder) zum Einsatz.
- weitere Anlagen (teilweise Prototypencharakter) sowie Kühlanlagen und -räume, Transporthilfen aus Kunststoff, Verpackungsanlagen usw.
Die Produktionsprozesse lassen sich insgesamt wie folgt beschreiben:
- physikalisch-mechanische Verfahren (Entfernung von Schmutz, zerkleinern, anreichern, Texturveränderung). Hierzu zählen
- mischen, kneten, aufschäumen
- zerkleinern, z. B. schneiden, hacken, reiben, mahlen etc.
- trennen, z. B. durch Sieben, Filtern
- physikalisch-thermische Verfahren (Haltbarkeit, Zerstören toxischer Substanzen, Verdaulichkeit, Bildung von Aromastoffen, Bräunung)
- erhitzen, z. B. braten, garen, pasteurisieren, sterilisieren, blanchieren
- frittieren
- räuchern
- kühlen, gefrieren
- Trocknung, Bestrahlung
- Destillation
- biologische Verfahren (Stoffumwandlung für Geschmack, Geruch, Textur, Genuss)
- alkoholische Gärung
- Milchsäuregärung
- Essigsäuregärung
- chemische Verfahren (für Geschmack, Textur, Haltbarkeit, Farbe)
- Eiweißgerinnung
- Zugabe von chemischen Lebensmittelzusatzstoffen
Statistische Schadenerfahrungen
Statistische Erfahrungen für die herstellende Lebensmittelindustrie für vegetarische sowie vegane Lebensmittel sind dem Autor bis heute nicht bekannt, sodass eine zutreffende statische Aussage zur Frequenz und Schwere von Sachschäden nicht möglich ist. Da aber die verwendeten Gebäude, Einrichtungen sowie Technologien zur Herstellung veganer und vegetarischer Lebensmittel sich nicht im Wesentlichen von den in der traditionellen Lebensmittelindustrie verwendeten Technologien unterscheiden, sind nach Auffassung des Autors zunächst keine gravierenden Unterschiede zu erwarten.
Beobachtbare Industrietrends
Viele große Unternehmen und Konzerne investieren zunehmend in die Herstellung vegetarischer und veganer Lebensmittel, teilweise am selben Unternehmensstandort unter Verwendung vorhandener Anlagen und Maschinen. Dabei wird nach eigenen Aussagen auf eine strikte Trennung geachtet, um eine Vermischung oder Verunreinigung von vegetarischen oder veganen Lebensmitteln mit nicht vegetarischen oder nicht veganen Lebensmitteln zu vermeiden.
Kleinere Handwerks- und Gewerbebetriebe werden aufgrund des starken Zuwachses an alternativen Lebensmitteln zunehmend durch größere Betriebe und Produktionsstätten abgelöst. Damit einher geht eine stärkere Automatisierung der Herstellungsprozesse, wenngleich die Herstellung alternativer Produkte aufgrund der enormen Vielfalt der notwendigen Rezepturen sowie den Anforderungen der Vermeidung tierischer Bestandteile insgesamt sehr viel schwieriger zu automatisieren ist. Weiterhin sind große Warenlager, Kühl- und Tiefkühlwarenhäuser vorhanden.
Ähnlich wie bei der bisherigen Lebensmittelherstellung wird auch die alternative Lebensmittelherstellung zunehmend reguliert, z. B. durch Verschärfung der Vorschriften für Hygiene, Herstellung, Verpackung etc. sowie durch Handelsbeschränkungen, die zu erhöhten Anforderungen und damit auch steigenden Kosten führen. Hinzu kommt ein immer anspruchsvolleres Konsumentenbewusstsein und die Erwartung immer neuer Produkte. Als Folge erwartet der Autor ähnlich wie bei der bisherigen Lebensmittelherstellung keine bzw. geringe Investitionen in vorbeugende und abwehrende Brand- und Explosionsschutzmaßnahmen, da sie zusätzlich eine erhebliche Kostenbelastung mit sich bringen.
Brandschutz
Betrachtet man Betriebe der Lebensmittelindustrie, stellt man in der Regel fest, dass die Gebäude und Anlagen einen zusammenhängenden Komplex bilden, bei dem die Gefahr besteht, dass sich in einem größeren Schadenfall Feuer und Rauch ungehindert innerhalb der Gebäude und Räume ausbreiten und zu einem Großschaden führen können. Auch Betriebe, die nur auf die Herstellung alternativer Lebensmittel ausgerichtet sind, weisen eine vergleichbare Konfiguration auf, wie man feststellen kann, wenn man beispielsweise in der Applikation „Google Earth“ die Adressen dieser Betriebe eingibt.
Wertet man Besichtigungsberichte aus, sind Komplextrennungen und Brandabschnitte in aller Regel nicht vorhanden oder, falls vorhanden, ist deren Wirksamkeit durch brandschutztechnisch nicht geschützte Durchbrüche und fehlende brandschutztechnische Einbauten eingeschränkt.
Betrachtet man Brandschäden in der Lebensmittelindustrie, ergeben sich immer wieder die gleichen Ursachen, die mit der Frage, ob vegane, vegetarische oder Fleisch enthaltende Lebensmittel hergestellt werden, wenig zu tun haben. Typische Ursachen für einen Schaden sowie erhöhten Schadenumfang sind:
- menschliche Fehler bei Bauarbeiten, im Arbeitsprozess Defekte an den Produktionsanlagen und Gebäudeeinrichtungen, z. B. Frittier-/Raucherzeugungsanlagen, Lüfter, Elektroinstallation,
- vorhandene Gebäudekonstruktionen und Zwischenwände aus brennbaren Materialien/Isolierungen aufgrund erforderlicher Temperatur- und Hygieneanforderungen (z. B. Sandwichpanelen, Isolationsmaterial aus beispielsweise Polystyrol, Polyurethan),
- hohe Brandlast durch organische Lebensmittel, Hilfsstoffe (z. B. Öle, Fette), Fertigwaren, Verpackungsmaterial, Transporthilfen, Lagerhilfen,
- hohes Zündquellenrisiko durch umfangreiche Elektroinstallationen, hoher Automatisierungsgrad sowie durch vorhandene Kühl-, Koch-, Frittier-, Back- und Räuchereinrichtungen etc. in den Produktionsprozessen,
- schnelle Brandausbreitung durch fehlende bauliche Unterteilungen, hohe Brandlasten sowie unzureichende vorbeugende Brandschutzmaßnahmen sowie große Brandabschnitte mit hoher Wertbelastung. Hierzu gehören auch fehlende oder unzureichende feuerbeständige Abtrennungen gefahrerhöhender Einrichtungen, z. B. Räucherei, Koch- und Frittieranlagen, Thermoölanlagen, Kältekompressoranlagen,
- Explosionsrisiko (z. B. durch Mehl-/Zuckerstäube, Milchpulver, Stärke),
- hohes Rauchfolgeschadenrisiko (Produkte, Hygiene, Reinraumbedingungen) auch bei Kleinbränden; schon ein kleiner Sachschaden kann zu empfindlichen Betriebsunterbrechungen führen (z. B. durch Wiederherstellung der Hygieneanforderungen),
- zunehmend vorhandene große Kühl- und Tiefkühlhäuser (Wertekonzentration, Brandlast, Brandgefahren durch die Kühlatmosphäre),
- geringer Brandschutzstandard bzw. fehlendes risikoorientiertes Brandschutzkonzept (nicht gesprinklert, keine Brandmeldeanlage [BMA], keine feuertechnischen Unterteilungen, keine programmierte Wartung und Instandhaltung),
- Schwierigkeiten für die Feuerwehr, einen Brand effektiv zu bekämpfen (brennbare Gebäudekonstruktionen, fehlende oder mangelhafte feuertechnische Unterteilungen, hohe Brandlast, große Ausdehnung der Gebäude, kontrolliertes Abbrennen, Eigensicherheit),
- gering ausgeprägtes Risikobewusstsein/Fehleinschätzung bei den Unternehmen (z. B. die Annahme, dass Nassbetriebe risikoärmer sind),
- eingeschränkte Möglichkeiten der Sanierung von Gebäuden und Anlagen aufgrund von Hygienevorschriften sowie
- zusätzliche Auflagen von Behörden nach einem Brandschadenereignis mit entsprechenden Folgen für die Betriebsunterbrechung,
- Ausweichmöglichkeiten in der Regel nur begrenzt vorhanden bzw. mit erheblichen Mehrkosten verbunden,
- hoher PML/MFL (Probable Maximum Loss/Maximum Foreseeable Loss – Tendenz meist 100 % der Versicherungssummen für Betriebsunterbrechungen).
Der Autor erwartet daher, dass sich das Brandgeschehen auch in der Herstellung alternativer Lebensmittel nicht von dem der traditionellen Lebensmittelindustrie unterscheidet.
Underwriting-Erkenntnisse und -Empfehlungen
Aufgrund der Annahme, dass sich die Schadenentwicklung bei alternativ herstellenden Lebensmittelunternehmen nicht dramatisch von der traditionellen Lebensmittelproduktion unterscheiden wird, sollten für den Underwriter eines solchen Risikos ähnliche Fragestellungen gelten.4 Eine Reduktion der Brandlast (Einsatz von brennbaren Isolierstoffen in der Gebäudekonstruktion und bei Zwischenwänden, Verwendung von Transport- und Lagerhilfen, Verpackungsmaterial etc.) wird aufgrund hygienischer Anforderungen wenig vielversprechend sein.
Auch erfordern die Verarbeitungsprozesse eine Vielzahl von elektrischen und thermischen Anlagen, sodass eine Vielzahl von Zündquellen in einem Betrieb gegeben sind. Hierzu zählen auch notwendige Reparatur- und Wartungsarbeiten.
Auch eine Verlagerung der Produktion nach einem Schadenfall dürfte nicht unproblematisch sein, da die Herstellung alternativer Lebensmittel erhebliches Spezialwissen und fein aufeinander abgestimmte Produktionsprozesse erfordert.
Aufgrund des dynamisch wachsenden Markts für alternative Lebensmittel ist auch im Laufe eines Jahres mit nicht unerheblichen Veränderungen in einem versicherten Betrieb zu rechnen. Steigende Umsatz- und Gewinnerwartungen, aber auch steigende Anforderungen durch gesetzliche Regelungen sowie Erwartungen der Konsumenten lassen zunehmende Investitionen und Produktionsausweitungen erwarten. Daher ist eine regelmäßige Anpassung der Versicherungssummen, des Deckungsumfanges sowie der Versicherungsprämie erforderlich.
Fazit
Der Umsatz von vegetarischen und veganen Lebensmitteln wird in den nächsten Jahren weiter steigen. Zu beobachten ist, dass Lebensmittelkonzerne aufgrund der derzeitigen höheren Umsatz- und Gewinnerwartungen zunehmend in die Herstellung alternativer Lebensmittel einsteigen. Die tatsächlichen Gewinne werden sich aber bei einer zunehmenden Anzahl von Herstellern reduzieren und Auswirkungen auf die Kostendeckung haben. Hinzu kommt, dass die Qualitäts- und Hygieneanforderungen weiter steigen werden.
Betrachtet man die industriellen Technologien und Herstellungsprozesse alternativer Lebensmittel, kann man feststellen, dass sich die verwendeten Anlagen sowie die Hilfsmittel (z. B. Transporthilfen, Verpackungsmaterialien) nicht wesentlich unterscheiden. Der Unterschied besteht in der Verwendung der Zutaten. Daher sind wesentliche Veränderungen sowohl in der Frequenz als auch in der Schwere von Sachschäden bei der Herstellung vegetarischer und veganer Lebensmittelprodukte im Vergleich zur traditionellen Lebensmittelindustrie nicht zu erwarten.
Neben dem Sachschaden stellt die Betriebsunterbrechung eine besondere Herausforderung dar, denn neben der Frische der Produkte, Liefer- und Abnahmeverpflichtungen, Lieferfristen ist im Falle eines Sachschadens eine Verlagerung der Produktion auf andere Betriebe, z. B. Lohnunternehmen, aufgrund der Vielzahl der Rezepturen, der geforderten Qualität der Produkte sowie des erforderlichen Spezialwissens komplexer und damit schwieriger umzusetzen.
Brandschutzmaßnahmen werden wie in der gesamten Lebensmittelbranche nur vereinzelt anzutreffen sein und wenn, sind in der Regel Verbesserungen notwendig, da häufig ein unterentwickeltes Risikobewusstsein und begrenzte finanzielle Möglichkeiten bestehen. Es ist zu erwarten, dass wegen des dynamischen Marktgeschehens eher in neue Anlagen und Sachwerte investiert wird.
Hinzu kommt, dass präventive bauliche Maßnahmen (Brandwände) aus Gründen des Prozessablaufs selten umsetzbar sind. Außerdem lassen sich Gebäudekonstruktion und Zwischenwände aufgrund der Hygienevorschriften selten aus nicht brennbaren Materialien herstellen. Anlagentechnische Schutzmaßnahmen wie der Einbau von Sprinkleranlagen erfordern erhebliche Investitionen.
Es ist daher fraglich, ob sich die Herstellung veganer und vegetarischer Lebensmittel unter den derzeit vorzufindenden Umständen aus Sicht der Sachversicherung als deutlich risikoärmer darstellt.