Noch bis vor einigen Jahren schien es so, als gäbe es auf dem deutschen Markt für Arbeitskraftabsicherung keine wirkliche Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung (BU). Zwar wird auch die Absicherung bei Erwerbsunfähigkeit angeboten, richtig durchsetzen konnte sie sich aber nie. Umso erfreulicher ist es, dass sich in-zwischen ein erfolgreiches Produkt neben der BU etablieren konnte – der Schutz bei Verlust einer Grundfähigkeit (GF). Erfreulich deshalb, weil die BU zwar einen exzellenten Schutz bietet, allerdings zu einem entsprechenden Preis. Für körperlich Tätige ist dieser Preis leider oft zu hoch. Bei Vorerkrankungen oder speziellen Risiken kann es ebenfalls schwierig sein, eine BU abzuschließen. Hingegen ist es mit der GF oftmals möglich, diesen Personen ein ansprechendes und gleichzeitig bezahlbares Angebot zu machen. Die GF besitzt also das Potenzial, Kundenkreise zu erschließen, die nicht zur klassischen Zielgruppe der BU gehören. Wie Sie dieses Potenzial nutzen können und was es dabei zu beachten gilt, darauf möchten wir in diesem Artikel eingehen.
Die bisherige Entwicklung am Markt gibt erste Hinweise, was den Erfolg der GF betrifft: Seit 2014 wurde jedes Jahr mindestens ein neuer GF-Tarif eingeführt, insgesamt waren es elf neue Tarife bis Ende 2019. Ein Anbieter wurde sogar eigens für die GF gegründet. In einer Zeit, in der die Anzahl der Lebensversicherer beständig zurückgeht, unterstreicht dies die Bedeutung der GF zusätzlich.1 Umfragen unter Maklern zeigen, dass sie das Produkt zunehmend verkaufen. Und auch innerhalb der betrieblichen Altersversorgung wird die GF mittlerweile angeboten, nachdem das Bundesfinanzministerium Anfang 2019 bestätigte, dass das Produkt die nötigen Voraussetzungen erfüllt.
Damit ein GF-Tarif erfolgreich sein kann, halten wir es für wichtig, die Versicherung als vollwertiges Produkt mit seinen eigenen Vorzügen anzubieten, nicht bloß als zweite Wahl neben der BU. Die Gefahr einer Verdrängung der BU sehen wir hierbei nicht. Vielmehr zeigt unsere Erfahrung, dass durch die GF die Zielgruppe der eher risikoreichen Berufe erreicht wird und es in Summe zu mehr Abschlüssen kommt. Hier wirkt sich auch die höhere Annahmequote in der GF positiv aus.
Attraktive Alternative
Charakteristisch für eine GF-Versicherung ist die Zahlung einer monatlichen Rente, sobald die versicherte Person aus einem Katalog von vertraglich vereinbarten Grundfähigkeiten (mindestens) eine verloren hat. Sollte die Fähigkeit wiedererlangt werden, so wird die Zahlung eingestellt, spätestens aber mit Erreichen des vereinbarten Endalters. Das Produkt funktioniert also ähnlich wie eine BU. Was macht die GF im Vergleich zur BU nun attraktiv für den Kunden?
Zunächst einmal der deutlich niedrigere Preis. Der Grund für diesen Unterschied ist natürlich, dass die GF sich auf die Abdeckung wesentlicher Fähigkeiten konzentriert.2 Gleichzeitig darf man in der GF von geringeren Verwaltungskosten als in der BU ausgehen. Dies liegt zum Beispiel daran, dass weniger Leistungsfälle zu erwarten sind. Die Prüfung sollte weniger aufwendig sein, da das Berufsbild keine Rolle spielt. Und aufgrund der Schwere der Fälle dürfte ein geringerer Teil der Leistungsfälle für eine Nachprüfung infrage kommen.
Genauso kann sich der Kunde leichter ein Bild davon machen, wann eine Leistung zu erwarten ist. Während es in der BU das abstrakte Kriterium einer mindestens 50-prozentigen Berufsunfähigkeit gibt, können die Leistungsauslöser in der GF viel anschaulicher definiert werden. Beispielsweise kann man beim Handgebrauch vom Verlust der Fähigkeiten sprechen, wenn die versicherte Person nicht mehr in der Lage ist, eine Flasche mit Schraubverschluss zu- und wieder aufzudrehen.
Auch die Risikoprüfung lässt sich leichter absolvieren als in der BU. Das zeigt sich bereits bei den Antragsfragen, die weniger umfangreich ausfallen können. Es zeigt sich aber auch in der Prüfung an sich. So kann bei zahlreichen Vorerkrankungen eine normale Annahme erfolgen, wo in der BU bereits eine Reaktion erforderlich ist. Selbst Gründe für einen Ausschluss oder eine Ablehnung in der BU können in der GF lediglich einen Zuschlag nach sich ziehen. Zum Beispiel würde ein Bandscheibenvorfall in der BU einen Ausschluss bedeuten, in der GF ist aus unserer Sicht sogar eine normale Annahme möglich. Generell ist unsere Philosophie, in der GF nach Möglichkeit auf Ausschlüsse und Ablehnungen zu verzichten.
Die Zielgruppe ansprechen
Neben diesen generellen Vorzügen ist es in der GF sehr gut möglich, die Kundenansprache passgenau auf einzelne Zielgruppen zuzuschneiden. Dies ist bereits bei der Formulierung der Leistungsauslöser möglich. Hat man etwa Handwerker als wichtige Zielgruppe identifiziert, so ist es denkbar, die Fähigkeit des Handgebrauch über eine Rohrzange statt über eine Flasche zu definieren. Außerdem kann das Werbematerial unterschiedlich gestaltet werden, indem man etwa den Schwerpunkt auf besonders relevante Fähigkeiten legt und die Bedeutung eines Verlusts im beruflichen Kontext darstellt. Bei Handwerkern würde man eher auf Fähigkeiten wie Knien, Bücken oder Heben und Tragen eingehen. Wer am Schreibtisch arbeitet, für den stehen Fähigkeiten wie Sitzen, geistige Leistungsfähigkeit oder das Bedienen einer Tastatur im Vordergrund.
Schließlich kann die Ansprache einzelner Zielgruppen direkt über die Zusammenstellung der Fähigkeiten erfolgen. Gängig ist es zum Beispiel, nicht nur ein GF-Produkt anzubieten, sondern zwei oder drei Tariflinien, die aufeinander aufbauen. Den Anfang macht ein Basispaket, das die grundlegendsten Fähigkeiten enthält. Diese Basis wird um weitere Fähigkeiten zu einem zweiten oder auch dritten Paket ergänzt, wobei die zusätzlichen Fähigkeiten so gewählt werden, dass sie für bestimmte Kundengruppen besonders interessant sind.
Eine andere Möglichkeit ist ein modularer Ansatz. Auch hier beginnt man mit einem Basispaket als Fundament. Die Basis kann dann durch zusätzliche Module ergänzt werden. Die Zusammensetzung der Module wird wiederum auf spezielle Zielgruppen zugeschnitten. Anders als beim Ansatz mit mehreren Tariflinien muss es aber nicht so sein, dass die Module einander umfassen. Stattdessen können mit jedem Modul andere Schwerpunkte gesetzt werden. Der modulare Ansatz ist also tendenziell flexibler. Eine besonders hohe Flexibilität ist allerdings nur bedingt erstrebenswert (im Extremfall kann jede Fähigkeit einzeln ausgewählt werden), denn dadurch erhöht sich natürlich auch die Komplexität – sowohl für den Kunden bei seiner Entscheidung als auch für den Vertrieb und den Versicherer in den jeweiligen Prozessen.
Ob Tariflinien oder Module, beide Konzepte können durch optionale Zusatzbausteine vervollständigt werden. Dies bietet sich zum Beispiel für eine ergänzende Absicherung bei psychischen Erkrankungen an, wobei man sich in der GF typischerweise auf einzelne Auslöser wie schwere Depression oder Schizophrenie konzentriert. Eine andere Idee wäre ein Mobilitätsbaustein, der anspruchsvollere Fähigkeiten wie Auto- und Fahrradfahren oder die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs beinhaltet. Auch eine Abdeckung von schweren Krankheiten bietet sich als Zusatzbaustein an, wobei die Leistung üblicherweise als Einmalzahlung vorgesehen ist.
Ein Basispaket, passend zusammengestellt, eignet sich zudem hervorragend als Grundlage für ein Kinderprodukt. Hiermit lassen sich Kinder noch vor der Einschulung versichern, also deutlich früher als in der BU.3 Für Schüler ist der GF-Schutz auch deshalb interessant, weil der spätere Beruf noch nicht feststeht. Bei der Absicherung konkreter Fähigkeiten spielt die Frage nach dem Beruf schließlich keine Rolle. Weiter aufwerten lässt sich ein Kinderprodukt durch eine BU-Option, das heißt durch die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt ohne erneute Gesundheitsprüfung in die BU zu wechseln. Gewisse Rahmenbedingungen sollten hierbei erfüllt werden, zum Beispiel sollte der Wechsel an einen passenden Anlass wie die erstmalige Aufnahme einer Vollzeittätigkeit nach einer entsprechenden (Hochschul-)Ausbildung gekoppelt sein. Mit einer solchen Option stellt die GF-Versicherung auch für Auszubildende und Studenten ein attraktives Einstiegsprodukt dar, das preiswert abgeschlossen werden kann, ohne die Entscheidung für oder gegen die BU sofort treffen zu müssen.
Feinheiten der Kalkulation
Werfen wir einen Blick auf die Kalkulation. Die Höhe der zu zahlenden Prämie hängt natürlich wesentlich davon ab, welche Grundfähigkeiten versichert werden. Beispielsweise kann die Hörfähigkeit vergleichsweise günstig abgedeckt werden. Die Fähigkeit sich zu knien oder zu bücken wird dafür einen größeren Anteil am Gesamtbeitrag ausmachen. Je umfangreicher das versicherte GF-Paket ist, desto höher wird die Prämie ausfallen. Entscheidend ist allerdings auch die genaue Zusammensetzung des Pakets, da es die wechselseitige Beziehung der Fähigkeiten untereinander zu berücksichtigen gilt. Wer die Fähigkeit zu gehen eingebüßt hat, wird häufig auch nicht mehr in der Lage sein, Treppen zu steigen. Aufgrund dieser Überschneidung ist der gemeinsame Preis der Fähigkeiten Gehen und Treppensteigen niedriger als die Summe der (fiktiven) Einzelpreise. Umgekehrt werden die Fähigkeiten Hören und Knien/Bücken keinen großen Einfluss aufeinander haben, weshalb kein reduzierender Effekt für die Gesamtprämie zu erwarten ist. Die Berücksichtigung solcher Overlaps ist eine der wesentlichen Herausforderungen bei der Kalkulation eines GF-Tarifs.
Auch die genaue Ausgestaltung der Definitionen hat einen Einfluss auf das Prämienniveau. Die ersten GF-Tarife in Deutschland sahen beispielsweise vor, dass beim Handgebrauch die Fähigkeit beider Hände verloren gegangen sein musste. Mittlerweile ist es Standard, den Verlust nur bei einer Hand zu verlangen. Dies führt natürlich zu deutlich mehr Leistungsfällen. Auch die Wahl der Beispiele, über die ein Verlust definiert wird, ist relevant für die Prämie. Um beim Handgebrauch zu bleiben: Das Öffnen einer Flasche sollte trotz Einschränkungen eher gelingen als feinmotorische Tätigkeiten wie das Schreiben mit einem Stift.
Welche Punkte sind bei den Versicherungsbedingungen noch zu beachten? Grundsätzlich muss der Verlust einer GF durch eine Erkrankung oder eine Körperverletzung eingetreten sein. Dies muss von einem entsprechenden Facharzt bestätigt werden. Außerdem muss eine versicherte Fähigkeit zunächst vorhanden sein – andernfalls kann sie auch nicht verloren gehen. Da sich die GF auf körperliche Einschränkungen fokussiert, sind psychische Ursachen typischerweise ausgeschlossen (dies gilt natürlich nicht für einen Psyche-Baustein). Schließlich sind zumutbare Hilfsmittel verpflichtend einzusetzen, zum Beispiel eine Brille oder ein Hörgerät.
Chancen nutzen
Aktuell sieht man bei den Definitionen zahlreiche Varianten am Markt. Dies bietet neuen Anbietern die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen. Für Kunden und Vermittler kann es aber auch zu Verunsicherung führen, da scheinbar ähnliche Produkte sich im Detail doch unterscheiden können. In den kommenden Jahren dürfte es nach und nach aber zu mehr Einheitlichkeit kommen. Erste Ratings zur GF-Versicherung als mögliche Treiber gibt es bereits.
Wenn auch Sie die Chancen nutzen wollen, die eine GF-Versicherung für Ihr Portfolio bietet, wenn Sie Kundengruppen erschließen möchten, die von der BU bisher kaum erreicht werden, dann unterstützen wir Sie sehr gerne mit unserem Wissen und unserer Erfahrung in diesem Bereich. Wir begleiten Ihre Produktentwicklung von der Zusammenstellung eines GF-Katalogs bis zur Finalisierung Ihrer Versicherungsbedingungen. Jede Kombination von Fähigkeiten können wir für Sie bewerten und Ihnen die entsprechenden Rechnungsgrundlagen samt Herleitung liefern. Auf Ihren Wunsch helfen wir Ihnen auch bei der Entwicklung einer neuen Grundfähigkeit, die es so am Markt noch nicht gibt. Zu unserem Service gehört außerdem die Beratung in der Risiko- und Leistungsprüfung. Hier bieten wir Schulungen für Ihre MitarbeiterInnen und stehen auch bei der operativen Prüfung an Ihrer Seite.
Endnoten
- GF-Schutz kennt man auch in der Unfallsparte als Teil von Multi-Risk-Versicherungen (wobei als Leistungsauslöser der Verlust von mehr als einer GF üblich ist). In den vergangenen Jahren hat die Entwicklung hier aber an Schwung verloren.
- Dennoch ist die GF keine bloße Abschwächung der BU. Im Einzelfall kann die GF sogar leisten, auch wenn keine BU vorliegt. Beispielsweise ist bei einer Querschnittslähmung klar, dass die Fähigkeit zu gehen eingebüßt wurde. Bei einem Bürojob muss dies aber nicht zwingend zur BU führen.
- Bei kleinen Kindern ist es empfehlenswert, einen Teil der Definitionen anzupassen. Zum Beispiel sollten Gewichtsangaben bei einer Fähigkeit wie Heben und Tragen niedriger gewählt werden.