Die Antragsfragen, die einem potenziellen Kunden vor Abschluss eines Versicherungsvertrags vorgelegt werden, gelten seit jeher als zu umfangreich, schwer verständlich und sogar geschäftsverhindernd. Dies gilt ganz besonders im Bereich der Lebensversicherung, wo Fragen zur Gesundheit den Antrag dominieren. Zudem kollidieren hier die Interessen der Risikoprüfung mit denen des Vertriebs - die Sorge der Risikoprüfer, ob der Kunde die Fragen zutreffend und erschöpfend beantwortet, stehen Vertrieb und Kunden gegenüber, die an umfangreichen, schwer verständlichen Fragebögen verzweifeln. Nicht selten wird der Wunsch geäußert, das Problem zu lösen, indem auf Antragsfragen einfach verzichtet wird.
Entwicklungen der letzten Jahre
Für den Versicherer ist es essenziell, umfassende Informationen über den Antragsteller zu erhalten, da er nur so eine angemessene Risikoeinschätzung vornehmen kann. An diese Informationen gelangt er typischerweise, indem er den Antragsteller zu seiner persönlichen Risikosituation befragt. Dabei ist es wichtig, alle risikorelevanten Sachverhalte abzudecken, denn nur der Versicherer weiß, welche Informationen er zur Preisfindung benötigt. Da in der Lebensversicherung sehr vieles risikorelevant sein kann, bedeutet dies, dass ein Lebensversicherungsantrag eine große Zahl Fragen und häufig viele Seiten umfasst. Die Aufnahme von Beispielen, insbesondere im Bereich der Gesundheitsfragen, erleichtert dabei dem Kunden die Erinnerung an Vorerkrankungen, macht den Fragebogen aber noch umfangreicher.
Als Gegenreaktion gibt es einen starken Trend zur Verringerung der Antragsfragen. Fragen werden zusammengefasst, sie werden allgemeiner und unspezifischer, um mit möglichst wenigen Worten möglichst viel zu erfassen; aus Fragen werden Erklärungen, damit der Kunde nur einmal antworten muss. Antragsfragen sind zum Gegenstand des Wettbewerbs geworden, und die Anzahl entscheidet oftmals über Sieg und Niederlage im Vertrieb.
Besonders stark verkürzte Ansätze sehen oft eine Begrenzung des Eintrittsalters oder der versicherbaren Summe vor, oder sie werden nur in einem bestimmten Kontext wie beim Abschluss einer Baufinanzierung oder im betrieblichen Kollektivgeschäft eingesetzt. In vielen Fällen funktionieren diese Ansätze gut; es gibt jedoch auch Beispiele, in denen quasi keine Risikoprüfung mehr stattfindet und erhebliche Einbußen im Ertrag zu verzeichnen sind.
Trotzdem ist die Zufriedenheit mit der Gestaltung der Antragsfragen nicht gestiegen. Woran liegt das?
Drei Beispiele für Probleme
- Antragsfragen beziehen sich auf komplexe und komplizierte Sachverhalte. Die Gesundheitsfragen folgen der Einteilung nach Organbereichen, die dem medizinischen Laien eher wenig geläufig ist. Die Information hat er - unter Umständen vor vielen Jahren - anlässlich einer ärztlichen Behandlung erhalten; eine Dokumentation seiner Krankengeschichte liegt ihm meistens nicht vor bzw. ist nur mit einigem Zusatzaufwand vom Krankenversicherer zu bekommen.
- In vielen Anträgen wird der Kunde aufgefordert, den Anteil körperlicher Arbeit im Rahmen seiner Berufstätigkeit anzugeben. Aber wie definiert sich körperliche Arbeit? Das regelmäßige Hantieren mit schweren Aktenordnern? Die Überwachung von eigenständig arbeitenden Maschinen? Und was gilt als „gefährliche“ Sportart?
- Eine weitere Hürde ist psychologischer Natur: Antragsfragen dienen der Bewertung eines Risikos, beziehen sich demnach vorrangig auf riskante, also negative Eigenschaften der zu versichernden Person. Der Antragsteller soll Auskunft geben über seine Erkrankungen, seinen Lebensstil - soweit dieser als ungesund angesehen wird - und die Risiken, die mit seinem Beruf sowie seiner Freizeitgestaltung verbunden sind: alles Aspekte, mit denen sich die meisten Menschen eher ungern auseinandersetzen, die sie eventuell verdrängen und nicht unbedingt mit anderen Menschen teilen wollen. Dies wird sich fast unweigerlich negativ auf ihre Auskunftsbereitschaft und ihr Erinnerungsvermögen auswirken. Der Antragsteller befindet sich geradezu in einem moralischen Dilemma: Er soll möglichst vollständig Auskunft über seine Risikosituation geben; aber je besser ihm dies gelingt, desto teurer wird der zu erwerbende Versicherungsschutz bzw. umso größer das Risiko, dass er am Ende als nicht versicherbar eingestuft wird.
Bisher stand bei der Gestaltung der Antragsfragen der Inhalt im Vordergrund. Es wurde viel Energie darin gesteckt, was abgefragt werden sollte. Wie man die zu erfragenden Sachverhalte ermittelt, stand im Hintergrund. Insbesondere im Zuge der Reduzierung der Antragsfragen kam es zu Fragestellungen, die aus psychologischer Sicht eine richtige Beantwortung eher unwahrscheinlich machen. Es kam zu einem Wettbewerb über die Anzahl der Antragsfragen; dabei sind für die Antwortqualität die einfache Verständlichkeit und Beantwortbarkeit sowie die Zielgenauigkeit der Fragen als weitaus wichtiger einzustufen.
Aktuelle Entwicklungen
Technologische Entwicklungen und die zunehmende Digitalisierung sind aktuell die stärksten Treiber für Veränderungen in der Versicherungsbranche. Diese machen auch vor dem Antragsprozess nicht halt. Nunmehr steht der Kunde im Mittelpunkt der Überlegungen. Und nicht ganz überraschend erscheint der Antragsprozess, wenn er einmal mit den Augen des Kunden betrachtet wird, verbesserungswürdig, um im digitalen Zeitalter bestehen zu können.
Inzwischen gibt es erste Angebote, die sich auf die Anforderungen der Onlinewelt einstellen. Die Fragen sind kürzer, klarer und leichter verständlich, der Inhalt wird durch Bildsprache unterstützt. Bei den Gesundheitsfragen wird immer häufiger auf die Aufzählung der Organbereiche verzichtet. Und geradezu ein Paradigmenwechsel findet statt, indem darüber nachgedacht wird, verstärkt Aspekte abzufragen, die die Risikoeinschätzung positiv beeinflussen. Zum Beispiel wird im Rahmen von Fitnesstarifen erstmals der risikomindernde Effekt von Sport bewertet, während in der klassischen Risikoprüfung nur riskante Ausübungsformen und ihre Verletzungsrisiken (risikoerhöhend) Berücksichtigung finden.
Durch all dies wird den sich wandelnden Ansprüchen der Kunden, wie die Erwartung eines schnellen und intuitiv zu bedienenden Abschlussprozesses, Rechnung getragen. Ebenso wird ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt berücksichtigt: Ohne die Hilfe durch Vermittler oder Makler, die Fragen erklären, ist der Kunde auf sich allein gestellt. Er muss selber in der Lage sein, den Sinn der Fragen zu erfassen, andernfalls wird die Antwortqualität nachlassen, oder der Abschluss bleibt aus, weil der Kunde in dem Bewusstsein, dass eine falsche Antwort zum Verlust des Versicherungsschutzes führen kann, den Prozess lieber abbricht.
Viele aktuelle Überlegungen zielen darauf ab, Informationen künftig ganz anders und mit erheblich reduziertem Aufwand für den Kunden zu erheben. Die Möglichkeiten, die neue Technologien in dieser Hinsicht bieten, seien es Fitnesstracker, Gesichtsanalyse mittels Selfie, Sprachanalyse, Analyse von Social-Media-Daten oder die Genom-Analyse, werden derzeit erforscht, diskutiert und auf ihre Anwendbarkeit im Versicherungskontext überprüft. Ob diese Methoden irgendwann Antragsfragen obsolet werden lassen, bleibt abzuwarten.