Digitalisierung in der Versicherungswirtschaft – Möglichkeiten beim Antragsprozess
Die Digitalisierung erfasst mittlerweile alle privaten und beruflichen Bereiche des Lebens. Es gilt deshalb als sicher, dass die Digitalisierung auch vor der Versicherungswirtschaft nicht haltmacht, auch wenn man noch nicht die langfristigen Auswirkungen komplett absehen kann.
Dabei berührt Digitalisierung ganz unterschiedliche Aspekte im Zusammenhang mit Versicherungen. So kann es z. B. um Schnittstellen zu Endkunden und Maklern gehen, die InsurTechs besetzen möchten, oder man beschäftigt sich mit Wearables wie Fitness Trackern, die Kunden im Sinne des Nudgings zu einem risikobewussteren Verhalten anregen.
Wir sind überzeugt, dass die Erwartung von Kunden an Versicherungen in einer Onlinewelt maßgeblich durch Erfahrungen in anderen Bereichen beeinflusst wird. Prägend sind hier insbesondere Onlineprozesse beim Einkaufen (z. B. Amazon), bei sozialen Netzwerken (wie WhatsApp, Facebook, Instagram) und bei Streaming-Diensten (z. B. Netflix, Spotify). Dies bedeutet für Versicherungen, dass eine reine Übertragung analoger Prozesse ins Digitale zwangsläufig zu Frustrationen beim Kunden führen muss.
Wir möchten uns daher in diesem Netletter auf weitere wichtige Aspekte der Digitalisierung für Lebensversicherungsunternehmen fokussieren: die Steuerung des Versicherungsnehmers und die Gestaltung des Antragsprozesses in einer Onlinewelt.
Digitalisierung des Antragsprozesses
Heute ist es bereits möglich, nahezu alle Geschäfte des täglichen Lebens im Onlineverfahren abzuwickeln – seien es Bankgeschäfte, Postdienstleistungen, der Einkauf im Supermarkt – und sogar die Partnersuche wird online unterstützt.
Auf die Frage, was einen gelungenen Onlineauftritt ausmacht, würden wohl die meisten Anwender antworten: Er ist ansprechend gestaltet, enthält wenig Text, ist intuitiv zu bedienen und schnell zu durchlaufen – alles keine Eigenschaften, durch die sich der klassische Antragsprozess im Bereich der Lebensversicherung auszeichnet. Daher gilt für Onlineprozesse in der Lebensversicherung: Eine bloße Übertragung der alten Prozesse ins Internet wird den Möglichkeiten dieses Mediums, aber auch den Kunden und ihren Anforderungen nicht gerecht. Neue Wege sind gefragt!
Die Onlinewelt stellt die Gestalter von Antragsprozessen vor ganz neue Herausforderungen. Dabei denkt man zunächst vor allem an das Layout und die technische Umsetzung. Um den Kunden auf die Internetseite zu lenken, stehen ausgeklügelte technische Mechanismen zur Verfügung, für deren Anwendung es qualifizierter Beratung durch Experten im Onlinemarketing und in Onlineprozessen bedarf. Damit allein ist aber noch nichts gewonnen – der Kunde muss auch bis zum erfolgreichen Abschluss des Antrags auf der Seite gehalten werden. Idealerweise sollte er sich dabei so wohlfühlen und so attraktive Interaktionsangebote vorfinden, dass er später auch immer wieder gerne auf die Seite zurückkehrt.
An dieser Stelle ist die Branche mit einer nie dagewesenen Situation konfrontiert: Wo bisher der Vermittler oder Makler den Antragsteller beim Ausfüllen des Antrags begleitete, Fragen beantwortete oder durch Rückfrage beim Versicherer klärte und dem Kunden die Notwendigkeit seiner Absicherung vor Augen führte, wenn dieser die Sinnhaftigkeit des Abschlusses infrage stellte, fehlt jetzt zunächst jede direkte Einflussmöglichkeit. Der Antragsteller sitzt oftmals alleine vor seinem Bildschirm, und die emotionale Hürde, den Prozess abzubrechen, ist damit deutlich geringer. Zudem ist das Konkurrenzangebot so nah wie nie, nämlich nur einen Klick entfernt. Vergleichsportale tun das ihrige, um den Antragsteller zu überzeugen, dass das erste Angebot nicht das beste sein muss.
Chancen der Antragsgestaltung
Ein Grund schwarzzumalen? Ganz und gar nicht. Die digitale Antragswelt bringt zwar viele neue Herausforderungen mit sich, sie bietet aber auch nie dagewesene Möglichkeiten, Prozesse flexibel und ansprechend zu gestalten und damit viel individueller auf die Bedürfnisse heutiger Kunden einzugehen.
Grund genug für uns bei der Gen Re, uns sehr intensiv mit den Risiken und Chancen ganz neuer Antragsformen zu beschäftigen, um unsere Erstversicherungskunden dabei zu unterstützen, das Potenzial für die Lebensversicherung in der Onlinewelt immer stärker zu erschließen.
Neben vielen anderen Aktivitäten haben wir uns z. B. in einem gemeinsamen Projekt mit dem Forschungsbereich Behavioral Insurance der Technischen Hochschule Köln unter Leitung von Prof. Horst Müller-Peters damit auseinandergesetzt, was einen Antragsprozess auszeichnet, der ansprechend für den Versicherungskunden von heute und morgen, die Generation Y ist. Dabei haben wir Erkenntnisse der Verhaltensökonomie berücksichtigt, die sehr wertvolle Hinweise dazu liefert, wie Abschlussbereitschaft gefördert und aufrechterhalten werden kann, aber auch dazu, wie die Gestaltung von Fragen und Antwortmöglichkeiten die Antwortqualität bzw. die Authentizität der Antworten beeinflussen. Einige Erkenntnisse aus diesem Projekt möchten wir im Folgenden skizzieren.
Die Entscheidung darüber, wie wahrheitsgemäß die Fragen des Versicherers beantwortet werden, liegt möglicherweise sehr viel weniger in der Sphäre des Antragstellers als gemeinhin angenommen. Die gute Nachricht dabei ist: Der Versicherer kann sehr viel stärker und auch einfacher auf diese Entscheidung Einfluss nehmen, als ihm bewusst sein mag.
Sehr viel ist in der Vergangenheit diskutiert worden über das Risiko unvollständiger oder unwahrer Angaben des Versicherten im Leistungsfall, und Versicherer haben Mittel und Wege gefunden, dieses Risiko und seine Auswirkungen einzugrenzen. Es kommt aber auch in der Risikoprüfung zu unvollständigen oder unwahren Angaben, sei es unbeabsichtigt, z. B. weil Fragen missverstanden oder Dinge nicht erinnert wurden, oder – seltener – auch beabsichtigt. Und dies kann nicht nur zu einer ggf. unzureichenden Risikoeinschätzung durch den Versicherer führen; es birgt auch das Risiko, dass der Versicherte seinen Versicherungsschutz verliert. Es ist also in beiderseitigem Interesse, hier optimale Voraussetzungen für eine einfache Beantwortbarkeit und damit gute Antwortqualität zu schaffen. Und kleine Maßnahmen können hier bereits spürbare Effekte erzielen.
Erkenntnisse der Verhaltensökonomie legen außerdem nahe, dass das Image des Versicherers mit darüber entscheidet, welche Anstrengungen der Kunde unternimmt, sich an alle risikorelevanten Parameter zu erinnern, und wie groß die Hürde ist, solche Parameter zu verschweigen, zu untertreiben oder wahrheitswidrig zu behaupten. Daher bleibt es auch im Onlineverfahren enorm wichtig, den Versicherer nicht als ein abstraktes Konstrukt erscheinen zu lassen, dem ein Betrug nicht wehtut, sondern als eine Ansammlung von Menschen (eines „Teams“) – und zwar sowohl von Mitarbeitern als auch Mitgliedern des Versichertenkollektivs –, denen durch betrügerische Handlungen Schaden zugefügt wird. Damit kann sich der Kunde als Teil einer Community fühlen, die sich gegenseitig absichert, wodurch eine höhere Bindung und Selbstverpflichtung zu einem Verhalten, das der Gemeinschaft nicht schadet, entstehen kann.
Und es gibt weitere, scheinbar vollkommen nebensächliche Aspekte, wie z. B. die richtige Farbgestaltung, die den Prozess unterstützen und den Abschluss wahrscheinlicher machen.
Führt man sich nun noch einmal den klassischen Papierantrag für eine Lebensversicherung vor Augen, wird deutlich, dass hier zwei Welten aufeinanderprallen. Dass aus vertrieblicher und Marketingsicht derartige neue Ansätze begrüßt werden, liegt auf der Hand. Aber muss man als Risikoprüfer, als Risikomanager oder Leistungsprüfer der „alten“ Welt wirklich hinterhertrauern?
Der klassische Antragsprozess und dabei insbesondere die klassischen Gesundheitsfragen werden schon immer und immer wieder als schwer verständlich und damit erklärungsbedürftig, sehr zeitaufwendig und schließlich gar geschäftsverhindernd kritisiert.
Der dadurch ausgelöste, seit vielen Jahren andauernde Trend, Antrags- bzw. insbesondere Gesundheitsfragen zu verkürzen, hat einerseits dazu geführt, dass durch die einfache Reduktion von Fragen zuweilen gefährliche, zur Antiselektion einladende Lücken in der Abfrage entstanden sind. Er hat aber dazu geführt, dass die Anzahl der Fragen zwar weniger wurde, die Fragen aber länger und unverständlicher. Diese letztgenannte Tendenz führt – auch hier haben uns verhaltensökonomische Experimente interessante Erkenntnisse geliefert – zu einer Verschlechterung der Antwortqualität, und zwar aus ganz unterschiedlichen Gründen:
- Die Anstrengung, die der Kunde unternehmen muss, um sich an risikorelevante Aspekte zu erinnern, wird größer, weil die Erinnerung nicht hinreichend durch die Fragengestaltung unterstützt wird und durch Hervorheben einzelner Aspekte andere scheinbar in den Hintergrund geraten.
- Durch die Zusammenfassung nur bedingt zusammengehörender Aspekte – unterschiedlichster Art oder auch nur unterschiedlichster Risikolevel – gerät der Antragsteller bei der Beantwortung bisweilen in ein fast schon moralisches Dilemma, aus dem er sich nur durch Falsch- oder unvollständige Antworten befreien kann.
Die neue Antragswelt bietet gegenüber dem klassischen Papierantrag nun neue Möglichkeiten der Vereinfachung. Dadurch kann der Prozess komfortabler für den Kunden gestaltet werden, ohne dabei wichtige Rahmenbedingungen, wie das Informationsbedürfnis des Versicherers, aber auch z. B. die umfassenden regulatorischen Anforderungen außer Acht zu lassen. Es gibt folglich viele gute Gründe, sich ausgiebig und erwartungsvoll mit den neuen Möglichkeiten der Gestaltung von Antragsprozessen auseinanderzusetzen.
Fazit
Die Kombination von wissenschaftlichen Erkenntnissen wie z. B. aus der Verhaltensökonomie mit den heutigen Möglichkeiten der Digitalisierung führen zu neuen erfolgversprechenden Ansätzen.
Auf der einen Seite versprechen sie eine hohe Attraktivität beim Versicherungsnehmer, die sie in ähnlicher Form aus anderen Bereichen ihres Lebens kennen und deshalb auch im Versicherungsbereich erwarten. Auf der anderen Seite bieten diese Ansätze risikosteuernde Möglichkeiten, die bei einer statischen Antragsstrecke mit dem klassischen Papierantrag nicht realisiert werden können.