Von außen betrachtet scheint in den deutschen Kfz-Versicherungsmarkt Ruhe eingekehrt zu sein. Trotz aller Zukunftsängste – auf die später noch eingegangen wird – führen derzeit zwei zentrale Kenngrößen zu einem gewissen Wohlbehagen bei allen handelnden Akteuren: stabile, leicht positive versicherungstechnische Ergebnisse und ein solides Wachstum der Beitragseinnahmen.
Seit 2010 beachtliches Wachstum in der Kraftfahrtversicherung
Gerade die letztgenannte Komponente ist keine Selbstverständlichkeit, folgt man den umfangreich geführten Abgesangdebatten zu Themen wie Carsharing, Prioritätssetzung Jugendlicher, Verkehrsinfarkten in Städten und alternativen Mobilitätskonzepten. Trotz vielfach skizzierter Ineffizienzen und scheinbar nicht mehr gegebener Attraktivität des Autobesitzes wächst der Fuhrpark auf Deutschlands Straßen Jahr für Jahr um ca. 1,5 % – bisher ohne jegliche Anzeichen eines signifikanten Rückgangs. Die Anzahl haftpflichtversicherter Fahrzeuge steigt, ausgehend von 54,3 Mio. im Jahr 2007, auf voraussichtlich ca. 62,2 Mio. im Jahr 2017 an. Dies entspricht einem Wachstum von fast 8 Mio. Fahrzeugen (15 %!) in zehn Jahren.
Zu diesem Originalwachstum des Fahrzeugbestands kommen Beitragsanpassungen der Marktteilnehmer. Die Gesamtbeitragseinnahmen werden hierdurch in Summe ausgehend von EUR 20,1 Mrd. im Jahr 2010 auf einen Rekordstand von voraussichtlichen EUR 26,8 Mrd. für 2017 ansteigen – ein Wachstum um beachtliche 33 % bzw. um etwas mehr als 4 % pro Jahr. Dieses weit oberhalb der Inflationsrate liegende Wachstum hat es vielen Marktteilnehmern in den letzten Jahren erlaubt, auch ohne Intensivierung des Verdrängungswettbewerbs ihr jeweiliges Portfoliovolumen auszubauen.
Aus dieser Beitragssteigerung kann natürlich nicht unmittelbar eine entsprechende Ertragsverbesserung abgeleitet werden – schließlich stieg mit der Anzahl versicherter Risiken auch das korrespondierende Schadenexposure. Positiv zu bemerken ist allerdings, dass seit 2010 nicht nur die Gesamtbeiträge der Kraftfahrtversicherung gestiegen sind, sondern vielmehr auch die Durchschnittsbeiträge je Risiko Jahr für Jahr angehoben wurden. Sogar einer sich andeutenden Trendumkehr in den Jahren 2015 und 2016 konnte erfolgreich entgegengewirkt werden. In Summe stieg auch der Durchschnittsbeitrag von 2010 bis 2017 insgesamt um beachtliche 20 %.
Verteuerung der Kfz-Schäden oberhalb der allgemeinen Inflation
Dieser Anstieg in den Beitragskomponenten war allerdings auch bitter notwendig – schließlich war 2010 der Tiefpunkt des zweiten Preiszyklus erreicht. Die deutsche Kraftfahrtversicherung erzielte damals versicherungstechnische Verluste von 8 %, das zweitschlechteste Ergebnis seit der Deregulierung. Demzufolge waren die durchgeführten Maßnahmen zwingend notwendig, um die Kraftfahrtversicherung insgesamt in ein ertragreicheres Marktumfeld zurückzuführen. Auch die inflationäre Entwicklung auf der Schadenseite relativiert die vorgenommenen Beitragserhöhungen maßgeblich. Hierbei zeichneten sich in jüngerer Vergangenheit zwei grundlegende bemerkenswerte Effekte ab: Einerseits scheinen sich Schadenhäufigkeiten zunehmend auf den erreichten niedrigen Niveaus einzupendeln. Obwohl ein Anstieg dieser Kenngröße nicht aus den beobachteten Verläufen abgeleitet werden kann, dürften zukünftige Reduzierungen der Schadenhäufigkeit – wenn überhaupt – deutlich langsamer verlaufen. Der andere bemerkenswerte Effekt besteht im starken Anstieg des Schadendurchschnitts, der in allen drei Sparten weit oberhalb der (niedrigen) Inflationsrate lag. Bedingt dadurch, dass dieser starke Anstieg vor allem in den letzten Jahren nicht mehr durch einen geringeren Schadenanfall ausgeglichen werden konnte, schlägt diese Verteuerung direkt auf die Schadenbedarfe durch. Als Gründe der überinflationären Schadendurchschnittsentwicklung sind zum einen die Zunahme von Sensorik und Technik in den Fahrzeugen zu nennen, andererseits deutliche Anstiege in den Ersatzteilpreisen. Eine Sonderanalyse des GDV deckte hierfür bei einigen Herstellern und Teilen bemerkenswerte Steigerungsraten auf.
Seit drei Jahren leicht positive versicherungstechnische Ergebnisse
Zusammengefasst führen die Entwicklungen der Beitrags- und Schadenkomponenten zu einem prognostizierten versicherungstechnischen Anfalljahr-Ergebnis von +1,8 % für das gesamte Kraftfahrtgeschäft im Jahr 2017. Damit wäre das Ergebnis deckungsgleich mit dem Vorjahr und weicht mit +2,6 % nur leicht vom Ergebnis für 2015 ab. Sofern für 2013 und 2014 eine Naturgefahrenbereinigung durchgeführt würde (2013 hatte extrem hohe Belastungen, 2014 außergewöhnlich niedrige), wären sogar fünf stabile Jahre mit versicherungstechnischen Ergebnissen zwischen ±0 % und +3 % erzielt worden. Auch das kommende Jahr 2018 dürfte unabhängig von der Kenntnis genauer Kennzahlen wahrscheinlich im genannten Korridor abschließen. Nach jetzigem Kenntnisstand sind sowohl auf der Beitrags- als auch auf der Schadenseite gleichgerichtete Entwicklungen für 2018 zu erwarten, die sich im Hinblick auf ihre Ergebnisauswirkung gegenseitig kompensieren könnten. Diese Ergebnisse unterstreichen die derzeitige Konsistenz des Geschäftsmodells, das nur kleineren Änderungen unterworfen ist und deshalb nach außen scheinbar stabil auftritt – eben ruhig und relativ unaufgeregt. Ob der geringe Überschuss in Zeiten von Niedrigzinsen allerdings ausreicht, alle Interessen von Beteiligten und Kapitalgebern abzudecken, darf durchaus bezweifelt werden.
Diese Zahlen und Fakten spiegeln derzeit ein stabiles, konsistentes Ergebnis mit einem nur geringfügig zu erwartenden Veränderungspotenzial wider. Kann dieses nun als „Ruhephase“ der deutschen Kfz-Versicherungsindustrie interpretiert werden? Mitnichten, und sollte dies doch so aufgefasst werden, handelt es sich mit Sicherheit eher um das Auge eines existierenden Sturmtiefs. Dieses Sturmtief nimmt zahlreiche Themenblöcke mit auf seine Reise, von denen stellvertretend drei „D“-Schlagwörter genauer beleuchtet werden sollen: Daten(hoheit), Disruption und allgemeine Herausforderungen der Digitalisierung.
Daten, Daten und nochmals Daten
Letztlich überlagert die Diskussion um Daten und deren Besitz alle nachgelagerten Punkte, sofern die Diskussion weiträumig angelegt und geführt wird. Bekanntlich werden Daten auch als das „Gold des 21. Jahrhunderts“ bezeichnet, sodass Kenntnis und Besitz wesentliche Treiber des zukünftigen Erfolgs sein könnten. Die speziell Kfz-Versicherer interessierenden Daten werden aus den Fahrzeugen heraus generiert und befinden sich damit primär zunächst im „physikalischen Besitz“ der Hersteller. Generiert werden diese Daten hingegen von den Fahrzeugnutzern, die bedingt durch den Personenbezug eigentlicher Hoheitswächter der Datenzugriffsrechte sein sollten. Die über Jahre hinweg vielfach theoretisch diskutierte Debatte des Datenbesitzes erhält zu Beginn des nächsten Jahres einen praktischen Nährboden, da im März 2018 die eCall-Verordnung für neu zugelassene Fahrzeuge in Kraft treten wird. Nach derzeitigem Stand werden regulierungsrelevante Schadendaten dieser Fahrzeuge an involvierten Versicherungsunternehmen primär vorbeigehen. Denn trotz aller politischer Interventionen und Appelle ist es der Versicherungsbranche bisher nicht gelungen, direkten Zugriff auf diese Daten zu erlangen. Auch wenn sich diese Situation in Zukunft noch verändern und für Versicherer verbessern könnte, offenbart dieser Sachverhalt doch die Komplexität und Trägheit der Klärung von Datenzugriffsfragen. Und das, obwohl bereits weit vor dem politischen eCall-Einführungsbeschluss im Jahr 2011 um den integralen Bestandteil von Versicherungen in das Notfallsystem gerungen wurde – mit bis in die heutige Zeit unbefriedigendem Ausgang. Dieses ernüchternde Ergebnis stimmt nicht gerade optimistisch im Hinblick auf die weiteren Datenherausforderungen. Denn neben den verhältnismäßig einfachen situativen Unfalldaten ist die Kfz-Versicherung an kontinuierlichen Daten aus dem Fahrbetrieb heraus interessiert. Da derzeit hierfür weder Standardisierungen noch ausgereifte Datenkonzepte vorliegen, dürfte diese Aufgabenstellung weitaus schwieriger realisierbar sein als das simple Abgreifen eines standardisierten Notfallsatzes. Unabhängig vom zu wählenden Lösungsansatz („in-vehicle“, Serverlösung …) erscheint ein operativer Zugriff auf Fahrzeugbetriebsdaten in den nächsten Jahren, vielleicht noch länger, sehr fraglich. Auch wenn in einzelnen Fragestellungen, z. B. der Haftungsfrage von autonom fahrenden Fahrzeugen, die Notwendigkeit der Datenweiterleitung an Versicherer gesetzlich untermauert wird, dürfte der allumfassende Zugriff auf Realtime-Informationen noch auf lange Zeit Wunschdenken und Vision bleiben.
Notfallrettung als Business-Modell?
Viele Marktakteure reagieren auf diese unbefriedigende Situation mit einem alternativen Plan der eigenständigen Datenbeschaffung. Erstes Beispiel hierfür ist der Unfallmeldedienst des GDV, der alternativ zum eCall eine Notfallrettung als Nachrüstlösung und damit auch für Gebrauchtfahrzeuge bietet. Erstmalig wurde mit diesem Projekt die theoretische Debatte über Daten und potenzielle Produktlösungen unternehmensübergreifend auch der tatsächlichen Kundennachfrage ausgesetzt – leider mit enttäuschendem Ergebnis: Obwohl die Notfallrettung von fast allen Unternehmen angeboten wird, konnten nach 18 Monaten gerade einmal ca. 0,3 % aller Kunden für das Produkt gewonnen werden. Zusätzlich wird das Produkt nur von etwas mehr als der Hälfte der Käuferschaft aktiviert genutzt, was zusammen mit der geringen Absatzzahl unweigerlich zur Frage führt, ob hier nicht an realen Käuferinteressen vorbei entwickelt wurde. Natürlich ist der Notfallstecker ein sinnvolles und lebensrettendes Produkt. Allerdings dürften viele Kunden bei Versicherungsabschluss naturgemäß negative Zukunftsereignisse ausblenden, indem sie davon ausgehen, keinen Unfall zu haben – ein generelles Dilemma bei Versicherungsprodukten, die ja nur bei negativ eintretenden Umständen ihren Leistungsumfang aufzeigen können. Dieser Vorbehalt dürfte noch stärker bei schweren, Notfallsystem-relevanten Personenschäden ausgeprägt sein, denn welcher Kunde möchte sich schon gerne bei Vertragsabschluss mit der Situation auseinandersetzen, bewusstlos im Auto zu liegen? Gepaart mit der Tatsache, dass für den Unfallmeldedienst Kosten anfallen und Verbraucher für dieses Produkt einen Zusatzbeitrag entrichten müssen, könnte sich ein schlüssiges Bild für die Käuferzurückhaltung ergeben.
Irrt der telematische Irrweg?
Ein weiterer Weg, sogar fahrdynamische Parameter aus Fahrzeugen zu erhalten, ohne mit den Herstellern in Diskussionen einzutreten, liefern telematische Versicherungsprodukte. Hierfür soll der Kunde mittels Box, Stecker oder – mit zunehmender Beliebtheit – nur mittels seines Handys Informationen direkt an seinen Versicherer (bzw. einen beauftragten Provider) übermitteln. Analog zum Unfallmeldedienst bestand auch hier zunächst die Grundidee, den Kunden an den Infrastrukturkosten zu beteiligen bzw. das Produkt preisneutral über ergänzende Serviceleistungen an Kunden veräußern zu können. Letztlich siegte auch in diesem Bereich der bisher einzig erfolgreiche Marktmechanismus der Kfz-Versicherung: die Vorabweitergabe vermeintlicher Einsparpotenziale an den Kunden. Gemäß dieses Grundsatzes verlagert sich die Mitte der 1990er-Jahre umfangreich geführte „Rabattschlacht“ für alle Kunden nun scheinbar auf das Segment der Telematikkunden, die mit „bis zu 40 % Nachlass“ gelockt werden, sich ganzjährig der Überwachung durch ihren Versicherer auszusetzen. Dabei handelt es sich um einseitige Bonussysteme auf der Basis von normal kalkulierten Standardtarifen – eine erneute Analogie zur Anfangszeit der Deregulierung. Unstrittig dürfte sein, dass jeder derzeit am Markt operierende Versicherer ein erhebliches Problem hätte, wenn große Teile seines Klientels mittels simpler Freischaltung der Ortungsfunktion und Nutzung einer „Telematik-App“ diese erheblichen Rabatte abrufen würden – schließlich liegt die Schaden-Kosten-Quote vor Rabattierung marktweit bei ca. 98 %. Aus diesem Grund reduzieren die meisten Anbieter Telematikprodukte auf kleinere (risikoerhöhte) Zielgruppen oder auch auf fest definierte Testfelder. Um es an dieser Stelle abermals ausdrücklich zu betonen: Tests und Forschungen im Rahmen eines „F&E-Etats“ stellen keinesfalls einen telematischen Irrweg dar, den die Gen Re im letzten Jahr in einer Publikation1 zur Diskussion gestellt hat. Hierbei ging es ausdrücklich um den generellen „Business Case“, der unter der gewählten Rabattpolitik kaum aufgestellt werden kann. Gemäß einfacher Berechnungen der Gen Re benötigt ein 30%iger Rabatt des Kunden-Zahltarifs bereits eine Schadenbedarfsreduktion von ca. 40 % unter der Annahme, dass sich die Kostenparameter durch Telematikprodukte kaum reduzieren lassen. Die Hinzunahme exemplarischer 60 Euro Telematikkosten pro Jahr vergrößert die notwendige Schadenbedarfsreduktion auf 60 % (!), sofern alle Kunden eines Versicherungsportfolios 30 % Rabatt erhielten. Selbst im Fall eines ausschließlichen Produktangebots für erhöhte Risiken verbleibt eine notwendige Halbierung des Schadenbedarfs zur Deckung eines 30%igen Rabatts. Natürlich wird nicht jeder Kunde den vollen Rabatt erhalten, nur dürfte die Rückmeldung eines „nicht optimalen Fahrers“ auch nicht unbedingt zur dauerhaften Kundenzufriedenheit des Produkts beitragen.
3 % Marktanteil für Telematik in den nächsten Jahren durchaus möglich
Trotz dieser bekannten Vorbehalte wagen sich immer mehr Unternehmen auf dieses Experimentierfeld. Ein wesentlicher Grund dürfte darin liegen, dass die Marktführer sich hier entsprechend positioniert haben und auch Erfolg beim Absatz verbuchen können – zwar jeweils fünfstellig, aber insgesamt bisher doch nur in Höhe von ca. 0,5 % ihres Gesamtklientels. Nimmt man alle Telematikanbieter des deutschen Markts zusammen, ergibt sich als Summe ein derzeitiger Marktanteil von maximal 0,3 %, der sich sicher aufgrund der aggressiven Rabattpolitik in den nächsten Jahren jeweils verdoppeln dürfte. Trotzdem ist der Produktansatz weit davon entfernt, zum Marktstandard aufzusteigen. Die ausgeschütteten Rabatte der ganzjährigen Überwachung liegen aufgrund der niedrigen Durchschnittsbeiträge für die meisten Kunden unter EUR 100. Dieses Preis-Leistungs-Verhältnis dürfte für die meisten Versicherungsnehmer negativ bewertet werden. Die Gen Re schätzt die mögliche Marktverbreitung von Telematikprodukten auf einen Anteil von 3 bis maximal 5 %. Selbst dann würde die traditionelle Produktlandschaft mit mehr als 95 % Marktanteil weder infrage gestellt noch gar obsolet werden. Bisher beobachtete Wachstumsraten von Telematikprodukten lassen weiterhin keinen exponentiellen, sondern vielmehr einen gemäßigten Anstieg vermuten. Damit dürfte es sicher einige Jahre andauern, bis beispielsweise eine Million Telematikverträge in Deutschland erreicht werden. Zeitgleich schreitet die technologische Entwicklung der Fahrzeuge ungebremst weiter voran. Im genannten Referenzzeitraum sind zwar keine vollautonomen Fahrzeuge zu erwarten, allerdings dürfte die Verbreitung von assistierenden bis hin zu teilautonomen Fahrfunktionen weiter zunehmen. Somit geht der Ausbau überwachender Telematik-Versicherungskomponenten einher mit der Entlastung des Fahrers, dessen vermeintliches Fehlverhalten immer häufiger durch Technik ausgeglichen werden kann. Ob und in welchem Umfang Fahrzeuge auf diese Technik zurückgreifen können – derzeitige Telematiklösungen der Versicherungswirtschaft liefern hierfür keinerlei Informationen.
Während kleinere Versicherer unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten die weitere Telematikentwicklung zunächst passiv beobachten, wächst in größeren Häusern die Unruhe, da für sie sogar avisierte 3 % - 5 % durchaus Kundenverluste in fünfstelligem Ausmaß bedeuten könnte. Als relativ kostengünstige Lösungen scheinen sich zunehmend Telematik-Apps auf privat vorhandenen Handys durchzusetzen, um die notwendigen Rabatte zur Kundengewinnung nicht unnötig durch hohe Hardwarekosten zu belasten. Die Ausgestaltung der individuellen Handylösungen ist allerdings sehr vielschichtig, angefangen von intelligenten Lösungen, die sich mit der Autohardware paaren und die Autofahrt somit automatisch erkennen, bis hin zu Anwendungen, die manuell an- und abzustellen sind und deshalb nur wenig Informationsgehalt bieten. Klar dürfte sein, dass diese mobilen Lösungen keine lückenlosen Aufzeichnungen bereitstellen werden und Kunden jederzeit die Möglichkeit besitzen, die Aufzeichnung zu unterbinden – sicher nicht ganz unkritisch bei nächtlichen (Disco-)Fahrten nach Hause. Neben der reinen Absatzzahl solcher Produkte mit Handy-App müsste also zusätzlich die (überwiegend unbekannte) Nutzungsrate einbezogen werden, um die reale Akzeptanz von Telematik beim Endkunden auch adäquat bemessen zu können. Risikotechnisch besitzen Handylösungen durchaus Vorteile, da im Gegensatz zur fest verbauten Fahrzeugbox eine Nutzererkennung ermöglicht wird und gleichzeitig noch Handynutzungen während der Fahrt erkannt werden können – zumindest solange sich der Trend zum „Zweit-Autohandy“ bei den Telematikkunden noch nicht durchgesetzt hat. Ein weiteres großes Plus der Handy-App-Lösungen ist naturgemäß die Skalierbarkeit des Produktansatzes, die zunehmend dazu genutzt werden dürfte, das Produkt nicht nur ausgewählten Testkunden, sondern vielmehr der Gesamtkundschaft anzubieten. Dass damit die Wette der Auskömmlichkeit gewährter Rabatte zunehmenden Einfluss auf das Kraftfahrt-Gesamtergebnis nimmt, versteht sich von selbst.
Telematik wird die derzeitige Tarifwelt ergänzen, nicht ersetzen!
Fraglich und weiterhin unbekannt bleiben die Interpretation und der Risikogehalt der hierdurch erworbenen telematischen Zusatzinformationen. Auch wenn erste ambitionierte Beratungshäuser vermelden, „in weiten Teilen die bisherige Tarifierung durch Fahrerprofile ersetzen zu können“,2 verbleiben große Unwägbarkeiten. Denn neben „Big Data“ bei der Verarbeitung komplexester telematischer Fahrdaten bedarf es naturgemäß auch einem „Big Data“ an Schäden, um die Auswirkungen telematischer Informationen auf Schadenkenngrößen zuverlässig ermitteln zu können. Natürlich lassen sich „Machine-Learning-Verfahren“ bereits auf 1.000 Schadenfälle anwenden, die von großen Versicherern bei angenommenem Telematikanteil durchaus erreicht werden könnten. Ob allerdings diese Ergebnisse den klassischen Verfahren mit weit mehr als zehnmal so viel Schadenerfahrung überlegen sind, darf zumindest angezweifelt werden. Ohnehin bedarf die sehr stark segmentierte Tariflandschaft eher Kundengruppen in Millionengrößen, um signifikante Kalkulationen zu ermöglichen – die Hinzunahme von komplexen Telematikinformationen als Add-on vergrößert diese Notwendigkeit eher. Aus diesem Grund reift in vielen aktuariellen Abteilungen die Idee, bisherige Tarifgegebenheiten durch Telematik vollständig ersetzen zu können. Letztlich wäre damit die derzeitige Welt mit 40 und mehr Antragsfragen obsolet – sicherlich ein weiterer Motivator für viele Unternehmen, sich zumindest „spielerisch“ mit Telematik auseinanderzusetzen. Was würde solch ein revolutionärer Ansatz aber in der Praxis bedeuten? Mit welchem Preis möchte diese neue Welt dem Kunden bei Vertragsabschluss begegnen? Eine simple Vorauszahlung eines Mittelwerts? Ein Tag Probefahren zur Ersteinstufung des Risikos? Und dann nach einem Jahr die Abrechnung einer bei Vertragsabschluss völlig unbekannten, ausschließlich auf die Fahrweise abstellenden Beitragshöhe? Wie soll ein Kunde Preisangebote verschiedener Versicherer vergleichen, wenn nur noch auf dynamische Preiskomponenten gesetzt wird und statische Parameter außen vor gelassen werden? Ganz zu schweigen von einer dualen Welt mit statischen, bei Vertragsabschluss garantierten Preisen, die sich im Wettbewerb mit dieser neuen, undefinierten Tarifwelt befinden.
Wie sehen mögliche disruptive Ansätze in der Kfz-Versicherung aus?
Letztlich liegt der Nährboden dieser und aller weiteren Experimentierfelder in der großen ungewissen Zukunft der Kfz-Versicherung begründet, verbunden mit der Frage, ob hier nicht eine fundamentale Disruption des Geschäftszweigs ansteht.
Gerade in den letzten Jahren wurde diese befürchtete Disruption in inflationärer Anzahl auf Digitalisierungs- und Zukunftskongressen der Versicherungsindustrie thematisiert. Per Definition handelt es sich um „eine Innovation, die ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung vollständig verdrängt“. An dieser Definition erkennt man bereits erste Schwierigkeiten der Übertragbarkeit, da es sich bei einem Versicherungsprodukt weder um ein physikalisches Produkt noch eine reine Dienstleistung handelt und zur vollständigen Verdrängung der „Pflichtversicherung Kfz-Haftpflicht“ eine umfangreiche Änderung der Gesetzeslage notwendig wird. Diese fehlende direkte Übertragbarkeit sollte natürlich nicht dazu führen, sich auf bestehenden Geschäftsmodellansätzen auszuruhen – dafür ist die Gesellschaft insgesamt zu stark im Wandel, und selbstverständlich ist hierbei das Versicherungswesen nicht ausgenommen. Unabhängig von dieser Diskussion bleibt doch das entscheidende Wort der Definition bisher unbeantwortet: Worin besteht eigentlich der für die Kfz-Versicherung bedrohliche Innovationsansatz? Oder einmal aus Kundensicht heraus betrachtet: Welche Probleme haben Kunden derzeit mit ihrer Kfz-Versicherung, und welche innovative Entwicklung könnte diese Kundenprobleme lösen? Natürlich existieren viele alltägliche Probleme zwischen Kfz-Versicherer und Kunden, und es bestehen zahlreiche Optimierungsmöglichkeiten, Kundenwünschen und Bedürfnissen vielfältiger, schneller und besser nachzukommen. Disruption geht aber deutlich darüber hinaus, denn diese stellt das grundsätzliche Geschäftsmodell infrage. Im Gegensatz zur erlebnisorientierten materiellen Güterindustrie besitzt die Kfz-Versicherung hierfür allerdings eine sehr ungünstige Ausgangsposition in Form einer unattraktiven „Kern-DNA“: Kunden zahlen Geld für ein immaterielles Produkt, welches eine Kompensation zukünftig eintretender Unglücksmomente verspricht – Erlebnisshopping sieht anders aus! Kfz-Versicherung ist und bleibt isoliert betrachtet ein Push-Produkt, welches sich nur durch die gegebene Regulatorik einer Pflichtversicherung (in KH) in den Verbraucherfokus schiebt. Von einem generell erzeugten Glücksgefühl der Käuferschicht ist die Branche hingegen meilenweit entfernt.
Disruption als unvermeidbare Folge der Digitalisierung?
Sollte also Disruption drohen, müsste diese schon von „außen“ ausgehen, also von Unternehmen, die sich bisher kaum bis gar nicht mit Kfz-Versicherung auseinandergesetzt haben. Ungewöhnlich wäre dies nicht, da der größte weltweite Taxivermittler Uber nicht ein einziges Taxi besitzt, der größte Wohnungsvermittler Airbnb selbst keine einzige Wohnung im Bestand hat und die größte E-Commerce Plattform Amazon ohne einen einzigen Shop zum Marktführer aufgestiegen ist. Warum also nicht ein führender Anbieter von Kfz-Versicherungen, ohne selbst als „klassischer Versicherer“ aufzutreten? Was in früherer Zeit unmöglich und absurd klang, wird durch die industrielle Digitalisierung zunehmend möglich. Denn die Chance und gleichzeitige Gefahr der bevorstehenden Digitalisierungswelle besteht darin, dass diese nicht an bisher definierte Branchengrenzen gebunden ist. Einen Vorgeschmack hierzu liefern erste Ansätze der Start-up- bzw. InsureTech-Szene, die mit sehr viel Phantasie versuchen, Kunden Versicherungen „zeitgemäßer und intuitiver“ näherzubringen. Dabei konzentrieren sich die meisten Ansätze auf eine „alternative Form“ der Versicherungsvermittlung, ohne dabei die eigentlichen traditionellen Versicherungsprodukte infrage zu stellen. In nahezu allen Fällen besteht das Ziel in einer möglichst breit und umfangreich angelegten Besetzung der Kundenschnittstelle. Vom Versicherungsprodukt selbst als zentrale Komponente der Geschäftsbeziehung wird meistens aber nicht abgerückt. Als Folge verbleibt die unveränderte Problematik der zuvor beschriebenen Kern-DNA, bei Kunden eher „Schmerzensbegrenzungen“ anstelle von Begeisterungspotenzialen hervorzurufen. Somit scheinen bisherige Lösungsansätze auch weit entfernt davon, disruptive Eigenschaften für die Kfz-Versicherung aufzuweisen. Einzig der Aggregatoransatz in Form von Internet-Vergleichsportalen besitzt bisher einen spürbaren Einfluss auf eine neue (digitale) Geschäftssteuerung der Kraftfahrtversicherung. Durch diese Technologie wird das Kfz-Versicherungsprodukt zwar für Kunden nicht attraktiver, aber deutlich transparenter, vergleichbarer und vor allem effizienter. Weder der komplexe Antragsprozess noch die anspruchsvolle Produktauswahl wurde hierfür reformiert, vielmehr besteht der Kundenmehrwert darin, mittels einmaliger Kundeneingabe eine große, fast marktabdeckende Angebotsübersicht zu generieren. Als Ergebnis erhält jeder Kunde ohne größeren Beratungsprozess ein individuell auf ihn zugeschnittenes Preis-Leistungs-Verhältnis zur Auswahl. Ergänzend hierzu kann der Angebotsprozess mittels Kundenprofilspeicherung jederzeit durch einfachen Klick aktualisiert abgerufen werden. Natürlich liegt in diesem neuen Geschäftszweig eine gewisse disruptive Tendenz begründet, da Kunden sich eher vom Portal als vom eigentlichen Risikoträger betreut sehen. Andererseits ist diese Art der Kundensicht durchaus vergleichbar mit dem klassischen Makler bzw. Mehrfachagenten-Vertrieb also auch nichts anderes als ein neuer, digitaler Vertriebszweig klassischer Kfz-Versicherung – und damit doch keine Disruption.
Kfz-Versicherung nur noch Zulieferer in digitalen Ökosystemen?
Eine mögliche digitale Verschmelzung von Fahrzeugen und deren Absicherung zu einer Einheit wäre hingegen durchaus ein disruptives Gedankenspiel. Dabei erscheint dieses Modell für kooperierende Versicherer zunächst gar nicht so unattraktiv, denn durch den Annex der Versicherung an ein attraktives Produkt würde auch die Versicherungsleistung direkt am Erlebnisshopping des Kernprodukts partizipieren. Darüber hinaus stiege auch Bedeutung, Wahrnehmung und Wertschätzung des Versicherungsansatzes beim Kunden, da das Kauferlebnis direkt bei Erwerb gegen jegliche Eventualitäten und Enttäuschungen abgesichert werden kann. Der große Nachteil, und damit das eigentliche disruptive Potenzial dieser Variante, bestünde in einer unvermeidbaren Unterordnung der Versicherungsleistung zum erworbenen Hauptprodukt. Denn die Kundenentscheidung würde im ersten Schritt ausschließlich auf dem „Erlebnisprodukt“ basieren, erst nachgelagert würde eine bedarfsgemäße Absicherung der Kaufentscheidung als Add-on hinzugefügt. Hierdurch ergäben sich klassische Zulieferungsverhältnisse von Versicherungskomponenten zu Kernprodukten und damit auch die automatische Hoheitsaufgabe der Kundenschnittstelle für involvierte Versicherungsunternehmen.
Bezogen auf die Automobilindustrie ist diese Verzahnung von Fahrzeugen und Kfz-Versicherung alles andere als neu, da Fahrzeughersteller seit Jahrzehnten mit Versicherungen kooperieren und gemeinsame Lösungen anbieten. Kritiker dürften deshalb anmerken, dass dieses Bedrohungspotenzial der Hersteller keinen neuen Sachverhalt darstellt. Bisher handelt es sich allerdings weitestgehend um getrennte Verkaufsprozesse, die nur begrenzt ineinandergreifen. Es dürfte auf der Hand liegen, dass die fortschreitende Digitalisierungsevolution diese Prozesse zusammenführen und integrativ aufeinander abstimmen wird. Und da – wie bereits ausgeführt – die Kfz-Versicherung zunehmend auf Daten aus den Fahrzeugen heraus angewiesen sein wird, besitzt eine enge Kopplung von Fahrzeug und Versicherungsdeckung durchaus versicherungstechnische Vorteile. Sollten beispielsweise einfache „Tick-Boxen“ in Fahrzeugverkaufssystemen ergänzende bedarfsgerechte Versicherungskomponenten mit abdecken, könnte sich die Wertigkeit einer separaten Versicherungslösung für den Kunden deutlich anders darstellen, als es noch heute der Fall ist.
Digitalisierung und die damit einhergehende Vernetzung von IoT-Produkten bilden auch für die Kfz-Versicherung Chance und Risiko zugleich. Die Chance besteht darin, integraler Bestandteil von Ökosystemen zu werden und damit die Position eines wichtigen Bestandteils der Wertschöpfungskette beim Kunden zu unterstreichen. Die hierfür notwendige Anforderung, diesen Ökosystemen einfach und schnell über digitale Schnittstellen (API) Versicherungslösungen bereitstellen zu können, dürfte den zukünftigen Erfolg eines Kfz-Versicherers maßgeblich beeinflussen. Das Risiko dieser Rollenverteilung besteht allerdings in der Aufgabe der (vertrieblichen) Selbstständigkeit. Aufgrund ihrer Schattenposition zu attraktiven Hauptprodukten werden Versicherer kaum in die Position gelangen, Ökosysteme zu steuern oder gar Einfluss auf die Kundenschnittstelle zu nehmen. Stattdessen besteht die große Gefahr der Reduktion des Tätigkeitsumfelds auf einen reinen Produktlieferanten. Kfz-Versicherer als reine Zulieferer in Ökosysteme der Hersteller – so könnte sie aussehen, die schöne neue Welt!
Endnoten
- Morawetz, Der telematische Irrweg der Kfz-Versicherung, Gen Re 2016, http://de.genre.com/knowledge/publications/kfz1603-de.html
- Guschas, „Kfz ist überreif für eine Disruption“, Zeitschrift für Versicherungswesen, 2.10.2017.