Wichtig ist, die Nebenwirkungen stets in Relation zu betrachten. Als Beispiel lässt sich an dieser Stelle das regelmäßig eingesetzte Arzneimittel Ibuprofen nennen. Dies zeigt bei über 10 % der Betroffenen gastrointestinale Beschwerden als häufige Nebenwirkungen. Diese Beschwerden sind in ihrer meist milden bis moderaten Ausprägung mit denen von Semaglutid vergleichbar.
Semaglutid wird zunächst niedrig dosiert verabreicht. Die Dosissteigerung erfolgt langsam, sodass eine stetige Gewöhnung erfolgt und die anfänglichen Beschwerden üblicherweise in den ersten Wochen, spätestens bis 20 Wochen nach Beginn der Behandlung, nachlassen. Eine bereits längere Anwendungsdauer ist demnach als positiver Faktor zu werten, da ein Absetzen aufgrund von Nebenwirkungen weniger wahrscheinlich ist.
Im Beipackzettel von Semaglutid sticht einem das Risiko einer akuten Pankreatitis als aufgeführte schwerwiegende Nebenwirkung besonders ins Auge. Die assoziierte Sterblichkeit kann hier jedoch von 1 % (leichte akute Form) bis zu 10 bis 30 % (schwere akute Pankreatitis) schwanken.10 In den STEP‑1-bis ‑6‑Studien sowie der SELECT-Studie wurde diese Diagnose nur bei 0 bis 0,2 % der anwendenden Personen gestellt.
Risikorelevant, insbesondere für eine Berufsunfähigkeit, sind auch die Fallberichte über eine mögliche Entwicklung einer Gastroparese (Magenlähmung) unter GLP‑1-Analoga. Eine verlangsamte Magenentleerung ist ein bekannter und auch gewünschter Effekt der Abnehmspritze. Eine völlige Magenlähmung/Gastroparese wird derzeit nicht als Nebenwirkung aufgeführt. Die Symptome sind jedoch ähnlich (Übelkeit, häufigeres Erbrechen, Sättigungsgefühl, Aufstoßen) und können die Differentialdiagnose speziell rein im hausärztlichen Rahmen erschweren.
Eine Auswertung, die Krankenversicherungsdaten von 613 nicht diabetischen Semaglutid-Patientinnen und ‑Patienten aus den USA umfasst, zeigte, dass hier bei 1,4 % der anwendenden Personen entweder eine Gastroparese diagnostiziert oder für die Studie als Gastroparese klassifiziert wurde, da Medikation zur Förderung der Magen-Darm-Motilität verschrieben wurde.11 Vergleicht man diese Daten jedoch mit der durchschnittlichen Gastropareseprävalenz der Allgemeinbevölkerung mit derselben Erfassungsmethode, also aus Gesundheitsakten und unter Ausschluss der Diabetiker, zeigt sich mit 0,9 bis 2,7 % Prävalenz, dass die Häufigkeit auch unter Semaglutid nicht über dem Durchschnitt liegt.12 Während der Zulassungsstudien wurden keine Gastroparesefälle erfasst. Nach bisherigen Arztberichten ist davon auszugehen, dass auch im Falle einer medikamenteninduzierten Gastroparese spätestens nach dem Absetzen des Medikaments eine Normalisierung zurück zum vorherigen Zustand eintritt.
Insgesamt ist eine Anwendung für Betroffene, die bestehende schwere Magen- oder Darmprobleme oder eine entzündliche Darmerkrankung haben, derzeit unter Vorsicht zu empfehlen. Im Beipackzettel wird auf die geringe Erfahrung für speziell diese eventuell vulnerablere Personenpopulation hingewiesen. Untersuchungen zur Reizdarmdiagnose zeigten kein erhöhtes Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen.
Da gastrointestinale Symptome zumeist bei Anwendungsbeginn und Dosissteigerung auftreten, sollte insbesondere für BU‑Absicherungen eine erst kurze Anwendungsdauer und mögliche auftretende Nebenwirkungen zunächst kritisch berücksichtigt werden.
Außerdem wurden Fälle von depressiver Verstimmung, selbstverletzendem Verhalten bis hin zu suizidalen Gedanken berichtet. Die EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur) untersuchte dies und kam zu dem Schluss, dass kein ursächlicher Zusammenhang mit GLP‑1-Analoga bestand.13
Im Tierversuch haben höhere Dosen das Risiko für medullären Schilddrüsenkrebs erhöht. Laut EMA zeigt die aktuelle Datenlage jedoch keinen kausalen Zusammenhang für die Anwendung am Menschen.14 Eine Verschreibung für familiär vorbelastete Personen oder solche, die bereits erkrankt waren, sollte dennoch nur unter vorsichtiger Abwägung erfolgen.
In der Anwendung als Diätmittel werden mehr als doppelt so hohe Dosen verabreicht wie für die ursprüngliche Diabetes-Indikation (maximal 2,4 mg gegenüber 1 mg pro Woche). Langzeituntersuchungen sind hier noch ausstehend, auch wenn die bisher beobachteten Symptome sich mit denen der bisher beobachten Nebenwirkungen für GLP‑1-Analoga decken, die bereits seit 2005 zugelassen sind.
Zuletzt ergibt sich durch den verringerten Appetit und die geringere Nahrungsaufnahme das Risiko eines Nährstoffmangels, wenn die Ernährung nicht entsprechend geplant ist.
Anwendungsdauer der Spritze
Semaglutid als Antiadipositum bedarf einer lebenslangen Anwendung. Studien zeigen, dass ein Absetzen des Medikaments nach einem Jahr bereits wieder zu einer Zunahme von ca. 2/3 des zuvor abgenommenen Gewichts geführt hat.15 Bei jedem Antragstellenden besteht das Risiko, dass nach der Abnahme eine deutliche Gewichtszunahme erfolgen könnte. Das Risiko einer schnellen und hohen Gewichtszunahme ist jedoch erhöht, wenn das Gewicht nur medikamentös gehalten werden kann und die Medikation abgesetzt werden könnte.
Daten dazu, wie hoch die Abbruchquote langfristig ist, liegen noch nicht vor. Auswertungen zeigen für andere GLP‑1-Rezeptoren, bei Personen mit Diabetes abseits der kontrollierten klinischen Studien, hohe Abbruchquoten von 45 bis 47 % unter zwölf Monaten und 65 bis 70 % unter 24 Monaten in dem Vereinten Königreich und in den USA.16 In Spanien haben ca. 50 % der anwendenden Personen die Behandlung nach zwei Jahren abgebrochen,17 in einer dänischen Auswertung waren es 45 % nach fünf Jahren.18
Ein häufiger Grund sind die hohen Behandlungskosten. Hinzu kommen auch Angaben zu den störenden Nebenwirkungen, Unzufriedenheit mit der damals noch täglichen Selbstinjektion sowie nicht (mehr) zufriedenstellende Abnahme und Blutzuckereinstellung. Inwiefern sich dies auf das effektivere Semaglutid übertragen lässt, das auch oral einnehmbar ist, bleibt vorsichtig abzuwarten. Dennoch ist, basierend auf anderen Studien, davon auszugehen, dass auch nur eine längere gesündere Lebensstilintervention das Risiko für Komorbiditäten reduziert bzw. eine erst spätere Ausprägung begünstigt.
Wenn Sport und Diät nicht ausreichen
Die Placebogruppen aus den Zulassungsstudien zeigen, dass moderate Lebensstilinterventionen bei Adipositas im Durchschnitt eher einen geringen Erfolg aufweisen. In der STEP‑5-Studie haben 500 kcal Defizit am Tag und 150 Minuten Bewegung in der Woche lediglich zu 2,4 % durchschnittlicher Abnahme geführt. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
Zunächst zeigen zahlreiche Studien, dass Menschen Nahrung unterschiedlich effizient verwerten. So wurden beispielsweise Probanden unter strenger Beobachtung, auch ihres Bewegungsverhaltens, über acht Wochen mit 1.000 kcal zusätzlich versorgt. Einige der Probanden nahmen nur 1,4 kg zu, andere wiederum 7,2 kg.19 Zwillinge zeigen eine ähnliche Gewichtszunahme auf.20 Hier zeigt sich bereits eine genetische Komponente, wie viel der Nahrungsenergie z. B. in Körperwärme umgewandelt wird (Thermogenese) und wie effizient Nährstoffe verstoffwechselt werden. Die Ausprägung der Muskulatur ist ein weiterer Faktor, welcher jedoch auch genetisch mit beeinflusst wird.
Hinzu kommen Veränderungen im Gehirn. So konnte bei adipösen Probanden im funktionellen MRT nachgewiesen werden, dass diese, wenn sie Essen sehen, eine stärkere Aktivität in diversen Hirnarealen zeigen, die auch in Suchtverhalten involviert sind. Eine Gabe von GLP‑1-Analoga konnte diese Überaktivität in den Belohnungszentren teilweise reduzieren, was anschließend zu einer reduzierten Essensaufnahme führte.21
Eine weitere Studie zeigt, dass 1 kg Gewichtsabnahme nachfolgend durchschnittlich zu einer Erhöhung des Hungergefühls im Rahmen von ca. 100 kcal führt.22 Kommt es nun zu einer größeren Abnahme, ist der Drang entsprechend größer, der Abnahme entgegenwirkend zu essen. Der Körper ist evolutionsbedingt darauf ausgelegt, Gewicht zu erhalten und nicht zu verlieren sowie einen Gewichtsverlust auszugleichen. Strenge Diäten und der damit verbundene Muskulaturverlust können den Erhaltungskalorienbedarf nach der Abnahme senken, was weiteres Abnehmen zusätzlich erschwert. Hinzu kommen eine durchschnittlich höhere psychosoziale Belastung und häufigere Assoziation psychischer Erkrankungen bei Adipositas.
Es zeigt sich, dass Betroffene mit einer ausgeprägten Adipositas mit erschwerten physischen und psychischen Bedingungen zu kämpfen haben. Eine deutliche Gewichtsreduktion und das dauerhafte Halten des Gewichts ist mit einer reinen Lifestyle-Intervention schwierig.
Kosten einer Semaglutid-Behandlung
Derzeit liegen die monatlichen Kosten für eine Semaglutid-Behandlung in Deutschland für Selbstzahler bei 300 € pro Monat, was 3.600 € im Jahr entspricht. Viele Betroffene können sich dies nicht dauerhaft leisten. In den USA liegen die Jahreskosten sogar bei 12.000 $. Mittelfristig kann von einer Kostensenkung ausgegangen werden, sobald das Patent ausläuft und Generika zur Verfügung stehen. Für Wegovy liegt in Europa und Japan ein Patentschutz bis 2031 vor, darüber hinaus bis 2032 in den USA sowie bis 2026 in China.
In einigen Ländern wird Semaglutid bereits als Abnehmmittel von Krankenversicherungen erstattet, einige private Krankenversicherer im deutschen Markt haben sich dem bereits angeschlossen.
Adipositas zählt mittlerweile als eine anerkannte chronische Erkrankung. Dennoch werden die Kosten für Semaglutid/Wegovy als Abnehmmittel nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, da im Sozialgesetzbuch ausdrücklich für Abnehmmittel keine Leistung hinterlegt ist.
Es bleibt abzuwarten, inwiefern mittelfristig eine Änderung zu erwarten ist, wenn ausreichend Studiendaten zum Mehrnutzen über das Abnehmen hinaus vorliegen. Derzeit kostet Semaglutid als Abnehmmittel pro Milligramm des Wirkstoffes ca. doppelt so viel wie derselbe Wirkstoff im Diabetesmedikament Ozempic. Das Antidiabetikum ist unter anderem deshalb gefragter und häufiger vergriffen.
Eine Versorgung mit Wegovy-Spritzen zum aktuellen Preis würde für alle adipösen Einwohner Deutschlands (19 %) über 50 Milliarden Euro kosten. Dies wäre mehr als die bisherigen Gesamtausgaben für alle Medikamente der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese lagen in 2022 bei 48,8 Milliarden Euro. Eine Kostenübernahme ab einem BMI von 30 bleibt daher selbst für spätere Generika unwahrscheinlich. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass höchstens Hochrisikogruppen ab einem deutlich erhöhten BMI und entsprechenden Komorbiditäten berücksichtigt werden können.
Weiteres Potenzial von Semaglutid und GLP‑1-Analoga
Die Evoke- und Evoke+-Studien untersuchen die Anwendung bei frühem Alzheimer, da epidemiologische Studien auf ein gesenktes Demenzrisiko hingedeutet haben. Die Ergebnisse werden 2025 erwartet.
Es häufen sich auch anekdotische Berichte zu einem reduzierten Konsumdrang bei anderen Süchten – die Kauf- und Spielsucht sei reduziert, es wurde weniger Alkohol getrunken, Cannabis konsumiert und weniger bis gar nicht mehr geraucht. Derzeit läuft auch eine erste Studie zur Anwendung bei Rauchern, die sich das Rauchen abgewöhnen möchten. In Tierversuchen konnte für Semaglutid ein reduzierter Alkohol- und Kokainkonsum nachgewiesen werden,23 für Alkohol konnte dies für GLP‑1-Analoga auch in klinischen Studien mit Menschen bestätigt werden.24
Semaglutid als Lifestyle-Medikament und im Off-Label‑Use
Semaglutid wird oft auch außerhalb der offiziellen Zulassung (Diabetes Typ 2 oder Adipositas BMI ≥ 30 oder ein BMI > 27 in Kombination mit Komorbidität) als Lifestyle-Medikament zum Abnehmen bei leichtem Übergewicht, bei Normalgewicht oder als Off-Label-Use für andere Indikationen, beispielsweise für leicht übergewichtige Personen mit psychischen Problemen oder als Anti-Suchtmedikation, genutzt. Diese Verwendungen sind derzeit als kritisch einzuschätzen, bis Studienergebnisse hierzu vorliegen.
Bei normalgewichtigen bis leicht übergewichtigen antragstellenden Personen ist somit zu klären, ob diese bei Medikationsstart die Indikationskriterien erfüllt haben, bereits erfolgreich abgenommen haben und nun lediglich zur Erhaltung weiter das Medikament benötigen. Gesundheitsfragen bezüglich Gewichtsschwankungen oder Dauermedikation helfen hier bei der Einschätzung.
Semaglutid ist erst der Anfang
Novo Nordisk, der dänische Hersteller von Semaglutid, ist mit einem Wert von 430 Milliarden Dollar zum wertvollsten Unternehmen Europas geworden. Dem Erfolgsrezept wollen sich natürlich weitere Hersteller anschließen, so sind auch weitere GLP‑1-Analoga in Entwicklung.
Neben der Applikation als Fertigpen ist mittlerweile auch eine orale Einnahme möglich. Als Antiadipositum zeigt die OASIS‑ 1-Studie in Phase III eine vergleichbare durchschnittliche Abnahme wie Wegovy, mit 15 % (bzw. 17,4 % ohne Berücksichtigung der Abbrüche) gegenüber 2,4 % in der Placebogruppe.25 Für die orale Einnahme muss der Wirkstoff jedoch deutlich höher dosiert werden (bis 50 mg täglich gegenüber 2,4 mg wöchentlich bei Wegovy). Als Antidiabetikum ist Semaglutid auch bereits unter dem Namen Rybelsus zur oralen Einnahme erhältlich.
Insgesamt stellen GLP‑1-Analoga eine erfolgsversprechende Alternative vor allem für die Breitenbehandlung zur bariatrischen OP dar und werden uns im Alltag der Risikoprüfung zunehmend häufiger begegnen.
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