Die Zunahme von Prozessfinanzierern (litigation funding) ist ein weiterer Aspekt, der in einigen Bereichen zu einer Zunahme an Rechtsstreitigkeiten führt. Seit ihren Ursprüngen in den 1990er-Jahren im Bereich der Personenschäden hat sich die Prozessfinanzierung in den USA in rasantem Tempo entwickelt. Sowohl Investoren als auch Anwaltskanzleien haben erkannt, dass Drittmittel für ein breites Spektrum von Rechtsgebieten eingesetzt werden können. Früher war die wichtigste Überlegung für Finanzierungssuchende: Wer kann das billigste Kapital zur Finanzierung meines Rechtsstreits anbieten? Heute kommen andere Variablen ins Spiel, da sich der Kundenkreis von Sammelklägern auf weniger gut kapitalisierte Anwaltskanzleien erweitert hat. Die Befürworter der Prozessfinanzierung führen insbesondere den gleichberechtigten Zugang zum Recht an, da sie es auch mittellosen Klägern ermöglicht, einen Rechtsstreit zu führen und anwaltliche Vertretung zu erhalten, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Dagegen wird u. a. argumentiert, dass Prozessfinanzierer die Interessen der Investoren über die der Kläger stellen und sich die Zahl der Rechtsstreitigkeiten, insbesondere der unseriösen Klagen erhöht.
Auswirkungen auf europäische Versicherer?
Für den europäischen Leser mag sich die Frage stellen, ob und inwiefern diese Entwicklungen im US-amerikanischen Haftpflichtmarkt Auswirkungen auf europäische Versicherer haben können. Ich möchte diese Frage mit einer Gegenfrage beantworten: Wird sich der Trend von der Kraftfahrt- auf die Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherung übertragen? Wenn ja, wird diese Entwicklung der US-Großschäden auch für europäische Versicherer relevant, vorausgesetzt, dass sie heimische Interessen in den USA versichern, beispielsweise über internationale Programme. Für Versicherungsunternehmen ist die Frage wichtig, ob sich der in Kraftfahrt zu beobachtende Trend auf andere Versicherungssparten ausbreitet. In gewisser Weise hat er das bereits getan: Die Schadenquoten stiegen zunächst nur in der gewerblichen Kraftfahrthaftpflicht, dann auch in der privaten Kraftfahrthaftpflicht, und mittlerweile beobachten wir ähnliche Trends bei Personal Umbrella.
Die Sorge US-amerikanischer Haftpflichtversicherungsexperten ist, dass der Trend, den wir seit etwa drei bis vier Anfalljahren beobachten können, denselben Pfad nehmen könnte wie in der letzten Haftpflichtkrise Ende der 1990er-Jahre. Auch dort gab es vorlaufend ca. zehn Jahre lang eine günstige Schadenentwicklung, bis dann Mitte der 1990er-Jahre zunächst in der Kraftfahrt- und etwa vier bis fünf Jahre später auch in der Betriebs- und Produkthaftpflicht ein signifikanter Großschadentrend zu erheblichen Nachreservierungen führte, wodurch die versicherungstechnischen Ergebnisse von vielen Erst- und Rückversicherern stark belastet wurden. Mit dieser Erfahrung vor Augen stellt sich jetzt die Frage, ob nun ein ähnlicher Verlauf zu befürchten ist.
Angenommen, der Schadentrend überträgt sich auf die Versicherungssparten Betriebs- und Produkthaftpflicht, so stellt sich die Frage, wie er sich dann auf europäische Versicherer auswirken könnte? Nur ein Teil der über internationale Programme versicherten europäischen Unternehmen verfügt über eine gewerbliche Kraftfahrtflotte in den USA. Für diese wird gewöhnlich eine lokale Versicherungspolice eingekauft. Selten gibt es für diese Kraftfahrthaftpflichtversicherung Deckung innerhalb der Master Police des internationalen Programms. Daher sind europäische Versicherer, die kein Originalgeschäft in den USA zeichnen, von den Schadentrends in der Kraftfahrthaftpflichtversicherung wenig betroffen.
Anders sieht es bei Betriebs- und Produkthaftpflichtversicherungen aus. Auch für diese Sparten werden in der Regel lokale Grunddeckungen vorausgesetzt, allerdings setzt die Master Police des internationalen Programms darauf auf und gewährt Deckung für Schäden, die sich in den USA ereignen und dort vor Gericht ausgeklagt werden. Sollten Großschadentrends auch die Deckung oberhalb der Lokalpolicen betreffen (und davon wäre auszugehen), hätte dies direkte Auswirkungen auf die aus Europa gewährten Master Policen. Betroffen hiervon wären in der Regel Konzerne mit signifikantem US-Geschäft, oftmals mit mehreren Betriebsstätten, auch in den besonders schwierigen Bundesstaaten wie Kalifornien, Texas oder Florida. Aber auch so mancher mittelständische Betrieb mit US-Exponierung könnte von diesen Entwicklungen betroffen sein. Aufseiten der Versicherer dürften die Industrieversicherer, aber auch Versicherer des Mittelstands an der Beobachtung der Haftpflichttrends in den USA ein erhöhtes Interesse haben.
Aus dem Blickwinkel eines Versicherers ist neben der Beobachtung der Schadentrends zu bedenken, dass auch hier Haftung nicht gleich Deckung ist. Nicht alle Schadensersatzansprüche sind von einer Haftpflichtpolice gedeckt. Hier sei als Beispiel das Thema „Punitive Damages“ genannt. Diese können z. B. in einer Police ausgeschlossen und daher nur als ein Teil des Gesamtschadens versichert sein. Der Versicherer muss weiterhin bedenken, dass der Deckungsumfang einer typischen US-Haftpflichtpolice ein anderer ist als der einer von Europa aus gesteuerten Master Police. Über Konditionsdifferenzklauseln und „Reverse DIC“-Klauseln können diese Deckungsunterschiede in beide Richtungen zum Teil ausgeglichen werden.
Wir laden unsere Kunden ein, mit ihrem Gen Re-Ansprechpartner in den Dialog zu treten, um von unseren Erfahrungen im US-amerikanischen Haftpflichtmarkt und unserer lokalen Haftpflichtexpertise zu profitieren. Gemeinsam können wir die US-Exposures einschätzen und angemessen reagieren.
Endnoten
- Nuclear Verdicts, Judicial Climate and Economic Conditions: The Case of Trucking, Schmid 2018.
- American Transportation Research Institute, Understanding the Impact of Nuclear Verdicts on the Trucking Industry, Juni 2020, S. 15, https://truckingresearch.org/wp-content/uploads/2020/06/ATRI-Understanding-the-Impact-of-Nuclear-Verdicts-on-the-Trucking-Industry-06-2020-2.pdf.
- Mittlerweile ist die Bevölkerungsgruppe der Millennials in den USA größer als die der „Baby Boomers“.