Befragungen von Betroffenen, die Wochen bis Monate nach einer COVID-19-Diagnose durchgeführt wurden, deuten auf unterschiedliche Langzeitsymptome auch bei vermeintlich genesenen Patienten hin. Dazu gehören:
- Atemnot
- Konzentrationsprobleme
- Vergesslichkeit
- Gedächtnisverlust
- Störungen des Geruchs- und Geschmackssinns
- Müdigkeit und Erschöpfung
- Stimmungsschwankungen
- Muskel- und Gelenkschmerzen
Dieses auch als „Long COVID“ beschriebene Beschwerdebild zeigt sich in unterschiedlich starken Ausprägungen, bei denen auch von einer schwankenden Stärke oder vom Verschwinden und späteren Wiederauftreten der Symptome berichtet wird.1 Auch hier empfiehlt sich die gesamtheitliche Betrachtung anhand des risikoprüferischen Dreiecks: Wie ist der aktuelle Gesundheitszustand und welche Anforderungen bestehen im Beruf sowie bei Freizeitaktivitäten, die beeinträchtigt sein könnten, um eine adäquate Risikoeinschätzung vornehmen zu können?
Wichtig bei dem bisher nur umrissenen Beschwerdebild Long COVID ist daher ein Überblick der möglichen Symptome, wie oft und wie schwerwiegend sie auftreten, wie lange sie bestehen bleiben und welche Ursachen sie haben.
Atembeschwerden
SARS-Cov-2, die Bezeichnung für das COVID‑19-auslösende Virus, steht für Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Corona-Virus-2. So zeigt bereits der Name, dass zunächst vor allem das respiratorische System, die Atemwege, betroffen sind. Ein typisches Symptom sind die sogenannten Milchglasinfiltrate der Lunge, die im CT nachgewiesen werden. Sie bezeichnen zunächst Bereiche der Lunge, in denen die Luft verdrängt wurde. Im Rahmen von COVID‑19 geschieht dies durch einen entzündlich bedingten Austritt von Blutbestandteilen aus den Kapillaren und einer lokalen Flüssigkeitsansammlung. Hierdurch wird der Sauerstoffaustausch von der Lunge ins Blut behindert und es können Symptome wie Atemnot und Husten auftreten.
Auch bei scheinbar beschwerdefreien Patienten sowie solchen mit nur mildem COVID‑19-Verlauf wurden Milchglasinfiltrate nachgewiesen.2 Unter welchen Bedingungen sich die Milchglasinfiltrate wieder zurückbilden oder es zu persistierenden Beschwerden und einer anhaltenden Narbenbildung (Fibrose) kommt, ist noch nicht ausreichend untersucht. Über die Ausbildung einer Fibrose wurde bisher vor allem bei akut schweren Verläufen berichtet;3 hier kommt es zur Verhärtung des Bindegewebes zwischen den Lungenbläschen und Blutgefäßen, welches dauerhaft den Sauerstoffaustausch stört.
Wenn die Sauerstoffaufnahme aus der Lunge ins Blut behindert wird, sinkt die Sauerstoffsättigung im Blut. Eine gesunde, trainierte und junge Lunge kann dies in kleinen Bereichen noch kompensieren, doch je stärker der Sauerstoffaustausch beeinträchtigt wird, desto deutlicher werden auch die subjektiv wahrnehmbaren Symptome und desto schlechter können die Körperzellen mit notwendigem Sauerstoff versorgt werden. Eine unzureichende Sauerstoffsättigung im Blut (Hypoxämie) äußert sich dann durch Atemnot, Erschöpfung und Schwindel. Gerade unter körperlicher Belastung besteht ein erhöhter Sauerstoffbedarf, sodass die Risikoabwägung persistierender Lungenschäden gerade bei physisch fordernden Berufen und Aktivitäten bedeutsam ist. Einige Beispiele hierfür wären Soldaten, Bauarbeiter, Polizisten, Berufs-/Freizeittaucher, Feuerwehrmänner und Sportler.
Die Schwere der COVID‑19-Erkrankung lässt keine eindeutige Aussage über den Grad und die Dauer einer Lungenschädigung zu; so wurden auch bei klinisch gesunden Tauchern in Folgekontrollen nach einer Infektion Milchglasinfiltrate, ein ausbleibender Gasaustausch zwischen Lunge und Blut (Lungenshunt), eine reduzierte Sauerstoffsättigung sowie bronchiale Übererregbarkeit festgestellt.4 Basierend darauf erlischt daher die Tauchtauglichkeit bei einer COVID‑19-Erkrankung und sollte anschließend neu attestiert werden. Hierauf haben sich die Gesellschaft für Tauch- und Überdruckmedizin (GTÜM), die Leitung Medizin der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) und der Fachbereich Medizin des Verbandes Deutscher Sporttaucher (VDST) in einer Stellungnahme geeinigt.5,6
Derzeit ist jedoch zumindest davon auszugehen, dass eine Abnahme der Milchglasinfiltrate im Verlauf möglich ist. So zeigen beispielsweise die bisherigen Ergebnisse der österreichischen CovILD Studie einen Rückgang der Lungenschäden innerhalb mehrerer Monate.7,8 Sechs Wochen nach der Krankenhausentlassung wurden hier noch bei 88 % der Patienten sichtbare Lungenschäden im CT festgestellt, und 65 % berichteten über Kurzatmigkeit. Zwölf Wochen später und damit 18 Wochen nach ihrer Entlassung sanken diese Zahlen auf 56 % und 39 %. Ebenso verbesserten sich die Lungenfunktionswerte von zuvor 1/3 der Betroffenen mit abnormalen Werten auf 1/5. Da häufiger Milchglasinfiltrate als Atemnotbeschwerden oder Einschränkungen im Lungenfunktionstest nachzuweisen waren, zeigt sich auch hier, dass die Milchglasinfiltrate nicht zwingenderweise zu merklichen Einschränkungen im Alltag führen. Aufgrund der potenziellen Zustandsbesserung im Verlauf kann eine erneute Risikoprüfung der Lungenfunktion zu einem späteren Zeitpunkt angeboten werden.
Organschäden
Im Zuge der akuten Infektion kann es zu weiteren Organschäden kommen. Berichtet wird hier vor allem von
- Herzschäden9 (Myokardverletzung, Arrhythmie, akutes Koronarsyndrom, Myokarditis)
- Nierenfunktionsverlusten (akute Nierenschädigung, die sich zu einem chronischen Nierenleiden entwickeln kann10,11,12,13)
- Gehirnschäden14,15 (Schlaganfall, Hirnblutung, Enzephalitis)
Mögliche Ursachen dafür liegen in einer Überreaktion des Immunsystems mit erhöhter Zytokin-Ausschüttung sowie Entzündungen der Gefäßwände, die zu Gerinnungsstörungen führen. Dies kann zu Einblutungen (Hämorrhagien) oder Gerinnseln führen, die die Blutversorgung unterbrechen und Gewebeschäden hervorrufen.16,17,18
Zudem nutzt das Virus ACE2 Rezeptoren, um in die Zielzellen einzudringen.19,20,21 So können bei einer akuten Infektion höhere ACE2-Rezeptorlevel in einzelnen Organen auch zu einer höheren Anfälligkeit für stärkere lokale Infekte führen.
Bei persistierenden Symptomen (Long COVID) ist aktuell von einem Weiterbestehen entzündlicher Prozesse durch das überaktive Immunsystem auszugehen. Mögliche Erklärungen hierfür sind derzeit residuale virale Herde in einzelnen Organen, die durch Nasen-/Rachenabstriche nicht erfasst werden, Fragmente der Viren, die sich nicht mehr replizieren können, aber weiterhin vom Immunsystem bekämpft werden, oder ein andauerndes Verbleiben des Immunsystems im überaktiven Zustand,22 wie es auch beim Pfeifferschen Drüsenfieber beobachtet werden kann.
Daher könnte auch langfristig ein erhöhtes Risiko für die Entstehung oder Verschlimmerung von Sekundärschäden bestehen.23 Zur weiteren Abklärung wurden im Juni von der British Heart Foundation mehrere Programm ins Leben gerufen, um sowohl das akute als auch das Langzeitrisiko für kardiovaskuläre Komplikationen und Multiorganschäden durch COVID‑19 zu ermitteln.24
Sensorik & Nervensystem
Ein weiteres frühes Symptom der Erkrankung ist der Verlust der Geruchs- und Geschmackswahrnehmung.25,26 Die Geschmacksknospen der Zunge erkennen üblicherweise fünf Geschmäcker – salzig, sauer, bitter, süß und herzhaft/fleischig (umami). Ein komplexeres Geschmacksbild entsteht immer erst im Zusammenspiel mit den Gerüchen eines Gerichts. Ob COVID‑19 daher tatsächlich auch die Geschmacksrezeption im Mund verändert oder der Eindruck nur durch eine verminderte Olfaktion entsteht, kann bisher noch nicht klar beantwortet werden.
Gerade für die Berufsbilder Koch, Parfumeur, Sensoriker, Geruchsprüfer sowie alle Berufe, in denen Geschmacks- und Geruchsempfinden essenziell sind, sollte dies individuell berücksichtigt werden, zumal diese Sensorikbeschwerden häufig nicht in den üblichen Gesundheitsfragen erfasst werden.
Wie häufig kommt es zu olfaktorischen und gustatorischen Einschränkungen nach einer Erkrankung?
Eine Befragung von 4.039 COVID‑19-Patienten des Forschungszentrums Jülich ergab, dass es bei 80 % zu Einbußen des Riechvermögens und bei 70 % zu verminderter Geschmackswahrnehmung kam – bei einem Großteil lag sogar ein vollständiger Verlust vor, der häufig auch drei Monate nach Erkrankung noch andauerte.27 Eine Befragung des UC San Diego Health von 102 Patienten zeigte mit 68 % olfaktorisch sowie 71 % gustatorisch beeinflussten Patienten ähnlich hohe Werte. Hier kam es jedoch bereits im Verlauf von zwei bis vier Wochen bei 74 % der Patienten zu einem Rückgang der Symptome.27 Eine prospektive Studie mit 202 mild verlaufenden COVID‑19-Fällen ergab vier Wochen nach der Erkrankung in 41 % der Fälle eine Besserung der Symptomatik und in 49 % der Fälle eine vollständige Heilung. Lediglich in 11 % der Fälle dauerten die Beschwerden unverändert an.28 Da die Beschwerden mit der Zeit rückläufig sind, kann hier bei beruflicher Relevanz auch eine Zurückstellung für eine kurze Zeit ausreichend sein.
Sollten langfristige Beschwerden bestehen, könnte eine Abnahme des Appetits und daraus folgender Gewichtsverlust eine mögliche Komplikation darstellen, die im Gesamtbild zu bewerten ist.
Inwiefern weitere sensorische Funktionen wie die Seh- und Hörfähigkeit beeinflusst sind, ist noch nicht abschließend geklärt. In 1 – 5 % der Fälle kommt es im Rahmen der COVID‑19-Infektion zu einer akuten Konjunktivitis,29 bei denen nicht von Folgekomplikationen auszugehen ist. Jedoch gibt es auch einige Fallbeschreibungen, in denen sowohl Mikrohämorrhagien als auch Cotton-Wool-Flecken durch Kapillarverschlüsse der Netzhaut auftraten.30 In bisher zwei Fallbeschreibungen wurden eine parazentral akute mittlere Makulopathie (PAMM) sowie eine akute makulare Neuroretinopathie (AMN) beschrieben, die langfristig zu retinaler Atrophie und Einschränkungen der Sehfähigkeit führen können.31
Auswirkungen auf das Hörvermögen bis zu einem einseitigen Hörverlust mit anschließender Besserung konnte auch bei asymptomatischen Patienten beobachtet werden.32,33
Der bisherigen Datenlage nach scheint das Risiko für langfristige Seh- und Hörfähigkeitsverluste eher gering zu sein; dennoch kann die gestörte Blutgerinnung zu mannigfaltigen Folgeschäden führen, die im Einzelfall berücksichtigt werden müssen.
Psyche
Schwierig nach einer Erkrankung einzuordnen sind die psychischen Auswirkungen, die diese mit sich bringt. So können gesundheitliche Beschwerden, eine Krankenhaus- und Intensivbehandlung, ein Leben in Quarantäne und Isolation, die Stigmatisierung als Erkrankter sowie Ängste rund um die Krankheit, Genesung und wirtschaftliche Folgen sehr belastend sein. Dies kann sich verstärkt in Form von Schlafstörungen, Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie posttraumatischen Belastungsstörungen äußern oder bestehende psychische und physische Erkrankungen verschlimmern.34
So zeigt der Blick auf SARS-Langzeituntersuchungen, dass 42,5 % der Patienten 2,5 bis 4 Jahre nach ihrer Entlassung noch an psychische Beschwerden litten, lediglich 3,3 % hatten bereits zuvor eine psychische Erkrankung. Die häufigsten Diagnosen waren posttraumatische Belastungsstörung (54,5 %), Depression (39 %), somatoforme Schmerzstörungen (36,4 %), Panikstörungen (32,5 %) und Zwangsstörungen (15,6 %).35 Da SARS jedoch deutlich häufiger als COVID‑19 schwer verlief und eine Intensivbehandlung nötig machte, welche die Wahrscheinlichkeit psychischer Folgeerkrankungen zusätzlich erhöht,36,37 ist bei COVID‑19 mit 80 % milden Verlaufsfällen von einer geringeren Betroffenenquote auszugehen.38
Erschöpfung, Muskel- & Gelenkschmerzen
Die mit am häufigsten beschriebenen Folgen einer COVID‑19-Erkrankung sind Müdigkeit und Erschöpfung.39,40 In einer französischen Studie hospitalisierter COVID‑19-Patienten litten 55 % noch 3,5 Monate später an Erschöpfung.41 Auch bei jungen, zuvor gesunden Erwachsenen mit mildem Verlauf ergab eine Umfrage zwei bis drei Wochen später bei 35 % eine noch andauernde Müdigkeit.42 Einige Fallberichte beschreiben fortbestehende schwere Müdigkeit, die ein Ausüben des vorherigen Berufs und zuvor alltägliche Arbeiten unmöglich macht.43 Hierbei ähneln die Symptome der umstrittenen Diagnose einer Myalgischen Enzephalomyelitis, auch chronisches Erschöpfungssyndrom genannt, dessen Ursachen bis heute nicht vollständig geklärt ist.44 Mögliche Erklärungen beinhalten auch hier ein fehlreguliertes Immunsystem und körperlichen/psychischen Stress.45
Daher wird dessen Existenz weiterhin kontrovers diskutiert, und es gibt zahlreiche, im Erfolg ungewisse Behandlungsansätze. Die teilweise fehlende ärztliche und gesellschaftliche Anerkennung führt häufig zu weiterer Frustration.
Wirft man einen Blick auf die Langzeituntersuchungen an SARS-Patienten, litten 40 % noch 3,5 Jahre später an chronischer Erschöpfung; 27 % davon erfüllten die damaligen Kriterien eines chronischen Erschöpfungssyndroms.46
Inwiefern dieselbe Post-COVID-Symptomatik mit zahlreichen weltweit Betroffenen zur weiteren Entschlüsselung, zum Verständnis und zur Behandlung dieses Krankheitsbilds beitragen kann, wird sich noch zeigen. Das Risiko einer andauernden chronischen Erschöpfung sollte jedoch insbesondere bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsprodukten berücksichtigt werden.
Gedächtnisverlust und Konzentrationsstörungen
Ein weiteres Symptom ist der sogenannte „brain fog“, ein benebeltes Denken, das sich in Form von Gedächtnisverlust und Konzentrationsstörungen zeigen kann.47 Beide Beschwerden können auch im Rahmen des chronischen Erschöpfungssyndroms auftreten.
Eine französische Studie hospitalisierter COVID‑19-Patienten ergab, dass 3,5 Monate später noch 34 % unter Gedächtnisverlust und 28 % unter Konzentrationsproblemen litten.48 Auch hier sind Patienten mit zuvor mildem Verlauf ohne Krankenhausaufenthalt betroffen.49 Einige Personen beschreiben hierbei demenzartige Zustände, welche die Ausübung des bisherigen Berufs und die normale Selbstversorgung im Alltag deutlich erschweren bis unmöglich machen und die über sechs Monate andauern können.50,51,52 Mögliche Erklärungen hierfür sind ebenso die Infektion von Nervenzellen/des Gehirns, die dauerhaft erhöhte Immunabwehr sowie Autoimmunreaktionen, durch die fälschlicherweise eigene Nervenzellen vom Immunsystem attackiert werden.53,54,55
Besondere Relevanz dieser Symptome ergibt sich für die Einschätzung der Berufsfähigkeits- sowie Grundfähigkeitsprodukte, die intellektuelle Fähigkeiten einschließen.
Metabolische Veränderungen
Mehrere Studien weisen derzeit darauf hin, dass COVID‑19 zu Stoffwechselanpassungen führen kann, die zu erhöhten Blutzuckerwerten führen.56,57,58,59 Eine SARS-Cov-2-Infektion kann nachweislich auch eine direkte Schädigung der Bauchspeicheldrüsenzellen mit sich ziehen.60,61 Daher ist derzeit von einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Diabetes sowie für die Verschlimmerung von bereits bestehendem Diabetes auszugehen.62,63
Im Gegensatz dazu scheinen die Blutfette im Zuge einer akuten, schweren COVID‑19-Erkrankung abzunehmen,64 sodass Hypolipidämie auch als Risikofaktor für einen schwereren akuten Verlauf betrachtet wird. Hierbei scheint das Molekül SREBP2 die Cholesterinsynthese zu behindern und einen Zytokinsturm zu begünstigen.65
Liegen außerdem weitere Symptome wie Atembeschwerden, Schmerzen, Depression und Erschöpfung vor, führt dies zu Bewegungsmangel, der zusätzlich zur Entwicklung einer Stoffwechselerkrankung beitragen kann.
Ob COVID‑19 langfristig das Risiko von metabolischen Erkrankungen erhöht und ob hiervon nur der Zuckerstoffwechsel betroffen ist, kann noch nicht abschließend beurteilt werden. Um verlässliche Aussagen zu treffen, wurde die internationale Datenbank COVIDIAB angelegt, welche die Diabetes-Inzidenz während und nach einer COVID‑19-Infektion sowie den weiteren Verlauf von bereits bestehendem Diabetes erfasst.66
Folgeuntersuchungen an SARS-Patienten deuten auch auf ein erhöhtes Langzeitrisiko für Lipid- und Zuckerstoffwechselstörungen hin; zwölf Jahre nach der Erkrankung litten 68 % unter Hyperlipidämie und 60 % unter einem abnormalen Glukosestoffwechsel, während in der Kontrollgruppe nur 40 % und 16 % betroffen waren.67
Prognosefaktoren für Long COVID – wen trifft es?
Einen ersten Überblick darüber, wer nach einer akuten Infektion mit höherer Wahrscheinlichkeit Long COVID entwickeln könnte, ermöglicht die COVID Symptom Study App. Hier haben mittlerweile über vier Millionen Nutzer ihre Symptome Post-COVID beschrieben.
Die erste Veröffentlichung der Auswertung von etwas mehr als 4.000 Teilnehmern ergab, dass einer von 22 Erkrankten auch acht Wochen später noch von Long-COVID betroffen ist und nach vier weiteren Wochen noch jeder 44.68 Hier identifizierte Risikofaktoren sind ein erhöhter BMI und höheres Alter, auch wenn jede Altersgruppe betroffen sein kann. In der jüngeren Altersgruppe scheint das Risiko für Frauen höher zu liegen als für Männer, was vor dem Hintergrund eines tendenziell schwereren akuten COVID‑19-Verlaufs beim männlichen Geschlecht weitere Fragen zu den Ursachen aufwirft. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang damit, dass das chronische Erschöpfungssyndrom häufiger bei Frauen als Männern auftritt.69
Eine Asthmaerkrankung stellt einen weiteren Risikofaktor für Long COVID dar. Generell war zu beobachten, dass die Wahrscheinlichkeit für Long COVID im Verhältnis zur Anzahl der Symptome in der ersten Woche stieg. Im Rahmen der Umfrageergebnisse ist jedoch zu berücksichtigen, dass es sich um Selbstauskünfte handelt und es für Patienten mit andauernden Symptomen wahrscheinlicher ist, dass sie an dieser Umfrage teilnehmen. Daher könnten die tatsächlichen Zahlen niedriger liegen.
Die WHO nennt als mögliche Risikofaktoren für Long COVID einen erhöhten Blutdruck, Übergewicht sowie psychische Beschwerden.70
Studien zum Auftreten und Verlauf von Long COVID
Ein genaueres Bild davon, wie häufig und unter welchen Umständen die Long-COVID-Symptome auftreten und wie lange sie bestehen bleiben, wird derzeit intensiv in mehreren groß angelegten Langzeitstudien sowie Umfragen erforscht.
Einige Beispiele:
- PHOSP-COVID – The Post-Hospitalization COVID‑19 study71
- COVIDOM UKSH-Langzeitstudie über 1,5 Jahre72
- Covid-Symptom-Study-App-Umfrage73
- COVIDIAB-Diabetes-Datenbank: Prävalenz vor sowie deren Inzidenz nach COVID‑1974
- mehrere Programme der British Heart Foundation für kardiovaskuläre Komplikationen und Multiorganschäden während und nach COVID‑1975
Besteht Immunität nach einer COVID‑19-Erkrankung?
Eine zurückliegende COVID‑19-Erkrankung wirft auch die Frage auf, ob das Risiko für eine erneute Erkrankung nun reduziert ist. Derzeit sind vier eindeutig dokumentierte Fälle einer Reinfektion zwischen 1,4 bis 4,5 Monate nach der Erstinfektion bekannt.76 Zwei dieser Fälle zeigten mildere Symptome bei der Reinfektion, und die wenigen Fallberichte im Verhältnis zur globalen Gesamtfallzahl deuten darauf hin, dass es üblicherweise zu einer zumindest abschwächenden Immunantwort kommt. Generell ist eine Reinfektion jedoch nicht auszuschließen, und in zwei Fallberichten kam es im Zuge der zweiten Infektion sogar zu einem schwereren Verlauf als zuvor.77,78 Es wird daher derzeit nicht empfohlen, nach einer COVID‑19-Genesung eine Immunität anzunehmen und bezüglich vorliegender Risikofaktoren für einen schweren COVID‑19-Verlauf günstiger zu votieren.
Grundsätzlich scheinen die Antikörperlevel sowie die Dauer ausreichend erhöhter Level mit der Schwere der Erkrankung zu skalieren und studienabhängig für weniger als zwei Monate bis zu bisher sieben Monaten nach der Infektion nachzuweisen zu sein.79,80 Wie lange im Durchschnitt eine Immunität besteht und inwiefern sie langfristig durch T- und B-Gedächtniszellen aufrechterhalten wird,81,82 bedarf vor allem breit angelegten Folgeuntersuchungen für Jahre nach der Infektion, die für diese noch junge Erkrankung bisher nicht vorliegen.
Ausblick
Zusammenfassend sind die bisher beobachteten Post-COVID‑19-Symptome auch bereits im Verlauf anderer Viruserkrankungen beschrieben worden. Inwiefern sich die Langzeitprognosen der anderen Coronavirus-Erkrankungen SARS und MERS auf COVID‑19-Fälle übertragen lassen, ist derzeit noch nicht zu beantworten, zumal damals deutlich weniger Menschen und mit einem häufig schwerwiegenderen Verlauf betroffen waren. Da COVID‑19 erst seit Dezember 2019 beschrieben ist, müssen für sichere Prognosen Langzeitstudien über mehrere Jahre hinweg abgewartet werden. Bis dahin können als Referenzen die derzeitige Einschätzung für die Einzelbeschwerden sowie Verlaufsprognosen der Beschwerden als Folge anderer viraler Erkrankungen dienen.
Da SARS-Cov-2 sich rasant ausbreitet (R = 2,4 – 3,3),83 weltweit bereits über 50 Millionen Fälle bekannt sind84 und auch akut milde Infektionen langfristige Auswirkungen haben können, werden wir uns zunehmend der gesamtheitlichen Risikoprüfung bei Long-COVID-Beschwerden stellen müssen. Das hier beschriebene Beschwerdebild soll daher einen ersten Überblick geben und basiert auf den bisherigen Erkenntnissen, die gewiss im Laufe der Zeit noch weiter ergänzt und präzisiert werden können.
Derzeit empfiehlt es sich, bei einer Erkrankung mit COVID‑19 in der akuten Phase den Antrag zurückzustellen und ab der Genesung (PCR-Test negativ) den vorherigen Krankheitsverlauf und derzeitige Beschwerden abzuklären. Liegen Long-COVID-Symptome vor, sollte deren Bedeutung produktspezifisch (was ist abgesichert?) und mit Blick auf das risikoprüferische Dreieck (Gesundheitszustand des Antragsstellers und die derzeitigen Anforderungen in Beruf und Freizeit) eingeordnet werden.
Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand kann eine Verlaufsprognose, eventuell unter ärztlicher Rücksprache, erfolgen. Kann derzeit noch keine Prognose über den weiteren Verlauf gestellt werden, ist im Zweifel ein abwartendes Verhalten mit einer Zurückstellung des Antrags zu empfehlen.