Das Kerngeschäft der Lebensversicherung besteht weltweit in der Beurteilung und Versicherung des Sterblichkeitsrisikos. In diesem Artikel stellen wir Ihnen die Ergebnisse unserer umfassenden Analysen der Sterblichkeitsverbesserungen in der Bevölkerungssterblichkeit in Deutschland vor. Diese Analysen wurden durchgeführt, bevor sich das Coronavirus zur Pandemie entwickelt hat. Niemand weiß bisher genau, wie sich das Coronavirus auf die Entwicklung des Sterblichkeitsrisikos auswirken wird. Es ist zu erwarten, dass sich COVID-19 in den Jahren 2020 und 2021 auch in der deutschen Bevölkerungssterblichkeit bemerkbar machen wird. Aus heutiger Sicht ist aber davon auszugehen, dass sich in zwei oder drei Jahren das Sterblichkeitsrisiko wieder gemäß den historischen Trends entwickeln wird. Trotz Corona bleiben diese Trends also von großer Relevanz für die Lebensversicherung.
Schwerpunktmäßig geht es in der umfangreichen Gen Re-Mortalitätsstudie um die mittlere Altersgruppe der 20- bis 69-Jährigen, in der der überwiegende Teil der Policen mit Todesfallcharakter anzutreffen ist.1 Auf Grundlage von Sterblichkeitsdaten aus der Human Mortality Database2 lassen sich für Westdeutschland3 über die Analyse eines gleitenden 20-Jahres-Trends für alle Jahre und Altersgruppen Verbesserungen in der Sterblichkeit feststellen.
Bis 2011 nahm die Sterblichkeitsverbesserung bei Männern aller Altersgruppen zu (siehe Abbildung 1), wobei insbesondere bei jungen Männern ein starker Zuwachs beobachtet werden konnte. Seit 2011 hat sich dieser Trend verlangsamt, obgleich die Sterblichkeit weiterhin gesunken ist; nur bei Männern der mittleren Altersgruppe (45 – 54 Jahre) setzte sich der Anstieg der Sterblichkeitsverbesserungen fort.
Bei den Frauen fallen die Ergebnisse volatiler aus. Grund dafür ist die natürlicherweise geringere Anzahl von Todesfällen in den erfassten Altersgruppen – 65 % aller Verstorbenen sind männlich. Nichtsdestotrotz zeigt sich, dass sich die Sterblichkeitsverbesserungen bei Frauen etwas früher verlangsamt haben als bei Männern. Ein weiterer geschlechtsspezifischer Unterschied besteht in den sehr schwachen Sterblichkeitsverbesserungen bei Frauen in den hohen Altersgruppen.
Sterblichkeitstrends unter Berücksichtigung der Todesursachen
Berücksichtigt man bei der Untersuchung der Sterblichkeitsentwicklung auch die Todesursachen4, stößt man ebenfalls auf alters- und geschlechtsspezifische Unterschiede. Kaum überraschen dürfte, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache bei älteren Menschen sind. In der Altersgruppe der 20- bis 69-Jährigen insgesamt hingegen sind Krebserkrankungen die führende Todesursache – 2017 waren darauf knapp 35 % der Sterbefälle bei Männern und 50 % der Sterbefälle bei Frauen zurückzuführen.
Auf der anderen Seite überwiegen bei jungen Menschen äußere Ursachen, deren Anteil an allen Todesursachen bis zu 60 % (für die Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen) beträgt. Dies zeigt, dass die häufigste Todesursache von Altersgruppe zu Altersgruppe unterschiedlich ausfällt. Bei jüngeren Altersgruppen gehören Verkehrsunfälle und Suizid zu den häufigsten Todesursachen.
Nimmt man die Verteilung nach Todesursache in der Altersgruppe der 20- bis 69-Jährigen über den betrachteten Zeitraum genauer unter die Lupe, stellt man fest, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen noch bis 1991 die häufigste Todesursache bei Männern waren, seitdem jedoch kontinuierlich zurückgegangen sind. Bei Frauen hingegen waren die Krebserkrankungen im gesamten Zeitraum die Haupttodesursache, wobei hier im Zeitverlauf ein allmählicher Anstieg festzustellen ist. In Deutschland wie in anderen Ländern mit hohem Einkommen ist Krebs inzwischen die häufigste Todesursache in diesen Altern. Ein Grund dafür könnte sein, dass in der medizinischen Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen enorme Fortschritte erzielt wurden. Eine weitere Erklärung für den rückläufigen Anteil von Herz-Kreislauf-Erkrankungen könnte allerdings auch die Änderung der Dokumentationspflichten für Totenscheine in Deutschland sein: Die neuen Vorgaben verlangen ein allumfassendes medizinisches Urteil, sodass zuletzt seltener eine solche Erkrankung als vermutete Todesursache eingetragen worden ist. Stattdessen hat die Zahl der nicht geklärten Todesursachen zugenommen, weil aufgrund eines allumfassenden medizinischen Urteils nicht immer eine klare Todesursache festgestellt werden kann.
Heatmaps und Hotspots – genauere Betrachtung der Sterblichkeit von Männern
Einige der interessantesten Beobachtungen haben wir in einer Heatmap hervorgehoben (siehe Abbildung 2), die wir auf Basis der verfügbaren Daten erstellt haben. So sieht man auf der Heatmap bei Männern zwei Hotspots. Ursache für die erhöhte Sterblichkeit zwischen 1968 und 1970 war höchstwahrscheinlich die Hongkong-Grippe, die weltweit ca. eine Million Todesfälle verursacht hat. Ob das Coronavirus vergleichbare Auswirkungen auf die Sterblichkeit haben wird, lässt sich mit Stand heute noch nicht vorhersagen. Der Hotspot um das Jahr 1990 herum lässt sich auf Sterbefälle durch Aids und einen Anstieg der Todesfälle durch Drogenmissbrauch zurückführen. Dank des erheblichen medizinischen Fortschritts in der Aids-Behandlung sterben Menschen mit HIV heutzutage nicht mehr zwangsläufig an dieser Krankheit.
Dass sich die Sterblichkeit zuletzt deutlich langsamer verbessert hat, zeigt sich an den orangefarbigen Bereichen ganz rechts auf der Heatmap.
Die markanteste Verlangsamung lässt sich in den Altersgruppen der 30- bis 39-Jährigen und der 60- bis 69-Jährigen feststellen (siehe Abbildung 3). In der ersten Gruppe ist dieser Trend gleich auf mehrere Gründe zurückzuführen: geringere Sterblichkeitsverbesserungen bei äußeren Ursachen, die größtenteils durch Verkehrsunfälle und Suizid getrieben werden, Krebserkrankungen (insbesondere lymphatische und hämatologische Tumore), Erkrankungen des Verdauungssystems (z. B. alkoholbedingte Leberzirrhose) sowie psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit Drogen- und Alkoholkonsum.
Gerade die starke Sterblichkeitsverbesserung aufgrund von weniger Suiziden und Verkehrsunfällen, die zwischen Mitte der 1990er- und Mitte der 2000er-Jahre beobachtet werden konnte, hat sich in jüngster Zeit bei immer noch leicht positiver Verbesserung deutlich abgeschwächt.
In der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen sank die Sterblichkeit aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich langsamer. Durch verschiedene andere Ursachen nahm die Sterblichkeitsrate sogar zu. Den größten Beitrag zu dieser Entwicklung leisten die nicht geklärten Todesursachen sowie Atemwegserkrankungen im Zusammenhang mit der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD).
In beiden Altersgruppen hat sich die Verbesserung der durch sogenannte „Deaths of Despair“ (dt. „Tod aus Verzweiflung“) bedingten Sterblichkeit – also durch Suizid und Todesfälle durch mit Alkohol und Drogen zusammenhängenden Erkrankungen – verlangsamt. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten, wo die mittleren Alter am stärksten von der Opiatkrise betroffen sind, spielt Drogenabhängigkeit bei solchen Todesfällen unter Männern in Deutschland eine deutlich geringere Rolle. Mögliche Gründe für die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA in Bezug auf Drogensucht sind die Wirksamkeit des deutschen Sozialsystems und die allgemeine Krankenversicherungspflicht. Auch die strengeren arzneimittelrechtlichen Vorschriften in Deutschland mögen eine Ausbreitung von Drogenabhängigkeit und die damit verbundene Sterblichkeit erfolgreich verhindern.
Dennoch sollte die Versicherungswirtschaft die Situation in Deutschland und anderen Ländern weiterhin kontinuierlich im Blick behalten, um einen möglichen Anstieg der Fälle von Opiatabhängigkeit frühzeitig festzustellen.
Unterschiede bei der Sterblichkeit von Frauen
Die Heatmap bei Frauen (siehe Abbildung 4) ist durch den Kohorteneffekt der Nachkriegsgeburtsjahrgänge geprägt, der sich negativ auf die Sterblichkeit auswirkt. Die Hauptgründe dafür sind eine stärkere Zunahme der Sterblichkeit durch Lungenkrebs im Vergleich zu benachbarten Kohorten sowie ein Anstieg der Todesfälle durch Atemwegserkrankungen in hohem Alter. Geringere Verbesserungen der durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bedingten Sterblichkeit können ebenfalls nachgewiesen werden. Die meisten Atemwegserkrankungen stehen im Zusammenhang mit COPD, wobei in Ländern mit hohem Einkommen die Mehrzahl der Fälle auf den Zigarettenkonsum zurückgeführt werden kann.
Auch wenn die Geburtsjahrgänge von 1941 bis 1950 nicht die höchste Raucherprävalenz aufweisen, gehen wir davon aus, dass Frauen in dieser Kohorte länger geraucht haben als die späteren Kohorten mit höheren Spitzenwerten.
Der Einfluss von Krebs auf die Sterblichkeit hat im Laufe der Jahre kontinuierlich zugenommen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich die Krebsarten anzusehen, die besonders dazu beigetragen haben, dass die allgemeine Sterblichkeit weniger schnell gefallen oder sogar gestiegen ist. Vergleicht man hier jüngere mit älteren Frauen, ergibt sich ein eher gemischtes Bild. In der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen hat Lungenkrebs zuletzt den stärksten negativen Einfluss auf die Sterblichkeitsentwicklung gehabt und zu einem deutlichen Anstieg der Sterblichkeitsraten geführt; abgemildert wird dieser Effekt jedoch von einem erheblichen Rückgang der Todesfälle durch Brustkrebs.
Bei der Altersgruppe der 25- bis 45-jährigen Frauen hingegen wirkt sich Lungenkrebs nur geringfügig auf die Krebssterblichkeit aus, während Brustkrebs zu einer weniger deutlichen Verbesserung oder sogar zu einer Verschlechterung der Sterblichkeit beigetragen hat.
Zusammenfassung
Wenn man die Heatmaps für Männer und Frauen gemeinsam betrachtet, stellt man eine positive Sterblichkeitsentwicklung seit 1980 für (fast) alle Jahre und Altersgruppen fest. Besonders deutlich war der Rückgang in der Sterblichkeit für die männliche Kohorte mit Geburtsjahr um 1965.
Andererseits erkennt man jedoch auch, dass die Sterblichkeitsverbesserungen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen in jüngster Zeit geringer ausfallen und bei nicht geklärten Todesursachen sogar tendenziell rückläufig sind.
Die weniger stark abnehmende Sterblichkeit infolge von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems steht möglicherweise im Zusammenhang mit verhaltensbedingten Risikofaktoren wie Fettleibigkeit, Bewegungsmangel und Essgewohnheiten. Gleichzeitig ist aber auch denkbar, dass das Potenzial für einen weiteren Rückgang der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen schlichtweg ausgeschöpft ist.
Bösartige Neubildungen werfen einen längeren Schatten auf die Sterblichkeit in den Altern 20 – 69. Ob die Sterblichkeit in Zukunft zurückgehen wird, hängt unter anderem auch davon ab, ob neue Medikamente und Therapien gegen Krebs entwickelt werden. Im Gegensatz zu kardiovaskulären Erkrankungen hat jede Krebsart unterschiedliche Ursachen und Einflussfaktoren und bedarf deshalb einer eigenen Medikation und Behandlung.
Abschließend kann man sagen, dass sich die Sterblichkeitsverbesserungen in einigen Altersgruppen zwar abgeschwächt haben, aus unserer Untersuchung lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die Sterblichkeit in Deutschland insgesamt in Zukunft zunehmen wird.
Endnoten
- Das Langlebigkeitsrisiko und damit verbunden die Alter ab 60, die für Policen mit Erlebensfallcharakter z. B. in der privaten Rentenversicherung im Vordergrund stehen, waren dagegen nicht Gegenstand unserer Untersuchung.
- https://www.mortality.org/ (letzter Zugriff am 04.07.2019)
- Aus Gründen der Datenverfügbarkeit und der Konsistenz beschränken wir uns in der Analyse auf Westdeutschland.
- http://www.gbe-bund.de/ (letzter Zugriff am 21.08.2019)
- Die den Sterblichkeitstrends zugrunde liegenden Daten wurden mithilfe von P-Splines geglättet.