Anders als in nahezu allen europäischen und vielen anderen Rechtsordnungen weltweit1 gewährte das deutsche Recht bisher keinen Anspruch auf eine immaterielle Entschädigung beim Tod naher Angehöriger,2 da dies eine Entschädigung eines nur mittelbar Geschädigten dargestellt hätte. Ein Schmerzensgeld wurde nur dann zugesprochen, wenn der Tod des Angehörigen eine unmittelbare Auswirkung auf den Körper oder die Gesundheit des Hinterbliebenen hatte.3
Insbesondere nach dem Absturz des Germanwings-Flugs 4 U 9525 vom 24. März 2015 wurde diese historische Entscheidung des Gesetzgebers in der Öffentlichkeit hinterfragt. Vor allem wurde es als ungerecht empfunden, dass die Ansprüche höher waren, wenn das Opfer eine Gewalttat oder einen Unfall überlebte.4
Nachdem bereits im Jahr 2012 ein erster Diskussionsentwurf zur Änderung dieser Vorschrift aus dem bayerischen Justizministerium vorgelegt worden war, hatte man die Einführung eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld im Koalitionsvertrag der Bundesregierung im Jahr 2014 vereinbart.5 Mit Gesetz vom 17. Juli 2017 wurde dieses Vorhaben nunmehr umgesetzt.6 Seitdem wurden die verschiedenen, mit der neuen Regelung verbundenen Fragen in vielen Aufsätzen mehr oder weniger ausführlich diskutiert.7 Der vorliegende Beitrag fasst den aktuellen Stand zusammen und zeigt offene Fragen auf. Anschließend wird der Versuch einer Bewertung vorgenommen und ein Ausblick gewagt, wie sich das Hinterbliebenengeld künftig entwickeln und welche finanziellen Auswirkungen es auf die Versicherungswirtschaft haben könnte.
Entschädigung im Todesfall im europäischen Vergleich
Wie unterschiedlich die Entschädigung im Todesfall in Europa ist, zeigt eine Gegenüberstellung der für einen getöteten 41 Jahre alten Familienvater mit Ehefrau und zwei Kindern (6 und 9 Jahre) und einem Netto-Jahreseinkommen von EUR 40.000 gezahlten Entschädigungsbeträge in einigen ausgesuchten Ländern zum Zeitpunkt der Einführung des Hinterbliebenengelds (Abbildung 1).
Die Tabelle verdeutlicht die unterschiedlichen Schadensersatzsysteme in Europa: In den meisten Ländern steht die konkrete Entschädigung des entstandenen Schadens im Vordergrund, daher wird der Hauptanteil der Entschädigung durch den materiellen Schadensersatz bestimmt; insbesondere in Italien und Spanien indessen macht der immaterielle Schaden deutlich mehr als die Hälfte der Gesamtentschädigung aus. Während mithin in einigen Ländern der entgangene Unterhalt konkret ermittelt und ggf. mithilfe von aktuellen Sterbetafeln und teilweise (gesetzlich oder gerichtlich) vorgegebenen Zinssätzen kapitalisiert und das Schmerzensgeld mehr als symbolische Entschädigung betrachtet wird, hat man sich in anderen Ländern für einen weitgehend tabellarischen Entschädigungsansatz9 entschieden, der zwar den tatsächlich entstandenen Schaden nur bedingt berücksichtigt, dafür aber hohe immaterielle Ansprüche gewährt, die auch den im Einzelfall unterbewerteten materiellen Schaden kompensieren sollen. So erhält die Witwe eines 67 Jahre alten Getöteten nach 15-jähriger Ehe in Spanien nach dem „Baremo“ (Entschädigungstabelle für Personenschäden) einen Pauschalbetrag i. H. von EUR 90.000; den gleichen Betrag, den unter 14-jährige Kinder erhalten würden.10 Dieser Basissatz wird jedoch noch individuell durch Pauschalbeträge oder prozentuale Erhöhungen angepasst.11
Noch deutlicher wird der unterschiedliche Ansatz, wenn man die Entschädigungsbeträge für die hinterbliebenen Eltern und eine 14-jährige Schwester eines getöteten 17 Jahre alten Jugendlichen vergleicht (Abbildung 2).
Der immaterielle ist im Vergleich zum materiellen Schadensersatz noch höher. Zwar gibt es auch in einigen anderen Ländern gerichtlich13 oder gesetzlich14 festgelegte (tabellarische) immaterielle Entschädigungsbeträge, diese sind jedoch deutlich niedriger.
So wird im Vereinigten Königreich eine einmalige Summe von GBP 12.98015 gezahlt. Anspruchsberechtigt sind beim Tod eines Minderjährigen die Eltern,16 beim Tod eines Verheirateten dessen Partner.17
Neuregelung in Deutschland
Die Neuregelung des § 844 Abs. 3 BGB gewährt Hinterbliebenen einen immateriellen Anspruch, wenn der Tod einer nahestehenden Person deliktisch herbeigeführt wurde; es müssen also die Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB oder des § 823 Abs. 2 i. V. mit einem strafbewehrten Tötungsdelikt ebenso gegeben sein wie eine adäquat kausale Verursachung und ein Verschulden.18 Gleichzeitig hat sich der Gesetzgeber entschieden, durch gleichlautende Regelungen in den relevanten Gesetzen auch die Gefährdungshaftung entsprechend auszuweiten.19
Dass – de lege lata – eine Geltung im vertraglichen Bereich ausgeschlossen ist,20 ist im Hinblick auf das Arzthaftungsrecht bereits auf Kritik gestoßen. Zwar besteht in diesen Fällen regelmäßig auch ein deliktischer Anspruch, sodass eine Ausweitung teilweise als nicht erforderlich angesehen wird;21 jedoch weisen die Befürworter eines – de lege ferenda – auch im vertraglichen Bereich geltenden Hinterbliebenengelds darauf hin, dass eine deliktische Haftung fehlen kann, wenn ein subjektives Fehlverhalten nicht nachweisbar ist oder die Beweislastregeln eine deliktische Haftung ausschließen.22
Allerdings sprechen dogmatische Gründe gegen eine solche Ausweitung, denn zum einen sind Angehörige als Dritte eben nicht in den Schutzbereich des Behandlungsvertrags einbezogen, und zum anderen wurden mit dem Schadensersatzrechtsänderungsgesetz bewusst nur (immaterielle) Ansprüche des unmittelbar Geschädigten aus dem deliktischen in den vertraglichen Bereich des BGB verschoben. Die Regelung des § 844 Abs. 2 BGB betrifft hingegen (materielle) Ansprüche Dritter. Selbst wenn das Hinterbliebenengeld gegenüber den materiellen Ansprüchen nach § 844 Abs. 2 BGB zunächst systemisch fremd erscheint,23 ist es mithin als Anspruch Dritter eher dem § 844 BGB als dem § 253 BGB zuzuordnen.24 Da – wie oben dargestellt – die Fallkonstellationen, in denen allein eine vertragliche Haftung gegeben ist, eher theoretischer Natur sind, ist die Entscheidung des Gesetzgebers, auf einen dogmatischen Bruch zu verzichten, deswegen nachvollziehbar.
Zur Begriffsbestimmung des anspruchsberechtigten „Hinterbliebenen“ stellt der Gesetzestext auf das besondere persönliche Näheverhältnis ab. Dieses wird bei Ehegatten/Lebenspartnern, Eltern und Kindern zunächst res ipsa loquitur gesetzlich vermutet. Dies zu entkräften, wird in der Praxis dem von diesem Personenkreis in Anspruch Genommenen regelmäßig sehr schwer fallen, wenn nicht gar unmöglich sein; eine wirkliche Erklärung für ein solches „Verwandtenprivileg“ liefert die Gesetzesbegründung nicht.
Darüber hinaus ist zu beachten, dass das ungeborene Kind nicht dieser Regelung unterfällt.25
Für andere Hinterbliebene wie eheähnlich Zusammenlebende, Verlobte, Stief- und Pflegekinder und Geschwister besteht die Möglichkeit, das Näheverhältnis nachzuweisen. Dieser Nachweis und das als Tatbestandsvoraussetzung erforderliche, durch den Tod erlittene Leid bedingen sich dabei gegenseitig. Zu prüfen ist auch, ob dieses Näheverhältnis zum Zeitpunkt des Todes (noch) bestand oder sich erst im Nachhinein „entwickelt“ hat.26
Bewertung
Angesichts der dargestellten (insbesondere in der Höhe) vielfältigen Lösungen in Europa gab es auch in Deutschland stark divergierende Vorschläge zur Bewertung der Anspruchshöhe. Dogmatisch nachvollziehbar und richtig hat der Gesetzgeber diese letztlich in das Ermessen der Gerichte gestellt. Dass ein pauschaler Ansatz, der auch den materiellen Schaden miteinbezieht, wie dies in Spanien und Italien der Fall ist, nicht gewählt werden konnte, dürfte angesichts der dargestellten grundsätzlichen dogmatischen Unterschiede im Entschädigungsansatz einleuchten. Allerdings wurde im Vorfeld diskutiert, ob nicht eine gesetzliche Vorgabe die Höhe des Ersatzbetrags regeln könne. So hatte der Deutsche Anwaltverein (DAV) Regelbeiträge i. H. von EUR 10.000 bis EUR 25.000 vorgeschlagen.27 In den Beratungen zum Verfahren waren sogar Beträge i. H. von EUR 30.000 bis EUR 60.000 diskutiert worden.28 Letztlich entschied man sich, dem historischen Ansatz des Vertrauens in die Judikative treu zu bleiben und keine Vorgaben nach englischem oder französischem Vorbild zu machen. Lediglich in der Gesetzesbegründung wird im Rahmen der Gesetzesfolgen eine Kostenschätzung vorgenommen, die durchschnittliche Beträge „von etwa 10.000 Euro, die derzeit von den Gerichten bei der Tötung eines Angehörigen als Entschädigung für sog. Schockschäden, die über das gewöhnliche Maß an Trauer und seelischem Leid hinausgehen, zugesprochen werden“,29 als Rechengröße heranzieht. Es ist zu erwarten, dass dieser Betrag künftig standardmäßig von Anspruchstellern gefordert werden wird. Bei der Regulierung wird dann darzulegen sein, dass die Rechtsprechung zum Schockschaden keineswegs so eindeutig ist, wie die Formulierung in der Gesetzesbegründung den Eindruck vermittelt. Im Durchschnitt dürften Entschädigungsbeträge diesen Betrag (teilweise recht deutlich) unterschreiten.30
Darüber hinaus hat der Deutsche Richterbund bereits in seiner Stellungnahme zum Hinterbliebenengeld31 die Entwicklung von Kriterien zur „Clusterung“ in Aussicht gestellt. Mögliche (objektive und subjektive) Aspekte und damit Diskussionspunkte im Rahmen einer Regulierung sind nach dem gegenwärtigen Stand der Literatur:
- Näheverhältnis – sowohl der Grad der Nähe, die Bedeutung des Verstorbenen als auch die Umstände des Versterbens und die subjektive Bewältigung des Trauerfalls durch den Hinterbliebenen
- Mitverschulden – sowohl des Getöteten als auch des Hinterbliebenen
- Mehrere Getötete – Hieraus ergeben sich zwar nicht mehrere Ansprüche, allerdings kann dieser Umstand Einfluss auf die Höhe des Anspruchs haben.32
- Zeitliches Auseinanderfallen von Verletzung und Versterben – Im Rahmen der Kausalität kann dies eine Rolle spielen und ggf. anspruchsmindernd wirken.33
Außerdem heißt es auch in der Gesetzesbegründung, dass der Anspruch auf Schmerzensgeld nach der Schockschadenrechtsprechung fortbestehen soll und das Hinterbliebenengeld gegenüber dem Schockschaden subsidiär ist. Allein schon deswegen muss die Höhe eines Anspruchs auf Hinterbliebenengeld hinter einem „echten“ Schmerzensgeldanspruch zurückbleiben.34
Ausblick
Neben den bereits dargestellten Rechtsproblemen, die das neue Hinterbliebenengeld mit sich bringen wird, sind folgende Punkte erwähnenswert:
- Fälligkeits- und Verjährungsfristen beginnen erst mit dem Tod und nicht etwa bereits mit der Verletzung.35
- Ob der Hinterbliebenengeldanspruch vererblich ist, ist umstritten. Von einigen Autoren wird dies unter Hinweis auf die Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgelehnt; da auch beim Hinterbliebenengeld der Genugtuungsgedanke im Vordergrund stehe, sei eine Vererblichkeit nicht zu rechtfertigen.36 Es handelt sich aber – wie auch schon die Gesetzesbegründung zutreffend ausführt – eben nicht um einen höchstpersönlichen Anspruch. Deswegen kann der Anspruch durchaus vererblich sein.37
- Aus demselben Grund ist der Anspruch auch pfändbar38 und kann (da nicht als Ausnahme in § 1374 Abs. 2 BGB benannt) auch in den Zugewinnausgleich einbezogen werden.39
- Darüber hinaus ist er auch einzusetzendes Einkommen im Rahmen der Sozialhilfe und dem ALG1, da er nicht – wie das Schmerzensgeld – ausdrücklich von der Berücksichtigung ausgenommen wurde; eine Analogie ist nicht zu rechtfertigen.40
- Als Schadensersatz ist das Hinterbliebenengeld nach § 24 Nr. 1 EStG nicht zu versteuern.41
Im Rahmen der prozessualen Durchsetzung des Anspruchs sind verschiedene Aspekte von Bedeutung:
- Kumulative Rechtsverfolgung – Schockschaden und Hinterbliebenengeld können wegen des Kostenrisikos hilfsweise im Wege einer Eventualklage geltend gemacht werden. Dabei ist allerdings die Festlegung auf einen (vorrangigen) Streitgegenstand erforderlich.42
- Unbezifferter Antrag – Eine konkrete Benennung des verlangten Hinterbliebenengelds ist nicht erforderlich, da die Bemessung der Höhe im Ermessen des Gerichts liegt. Nach § 287 ZPO ist aber eine Größenordnung/Mindestbetrag anzugeben.
- Streitgenossenschaft bei mehreren Hinterbliebenen – Bei mehreren Hinterbliebenen ist eine Streitgenossenschaft zu bilden.43
- Kostenlast – Bei einem unbezifferten Antrag mit Nennung einer Mindestsumme44 liegt die Kostenlast zur Gänze bei der unterliegenden Partei, wenn der Urteilsbetrag nicht mehr als 20 % von dieser Größenvorstellung abweicht. Dies gilt nicht, wenn die Betragsminderung auf einem Mitverschulden o. Ä. beruht.45
Kosten für die Versicherungswirtschaft
Laut Gesetzesbegründung belaufen sich die Kosten des Hinterbliebenengelds auf ca. EUR 240 Mio. pro Jahr. Dabei wird von 3.000 Fällen aus dem KH-Bereich, 1.500 Arzthaftpflichtfällen, 1.000 Fällen aus der allgemeinen Haftpflicht und 500 Tötungsdelikten ausgegangen. Weiterhin wird mit durchschnittlich vier Hinterbliebenen gerechnet, die jeweils EUR 10.000 erhalten. Auf Marktveranstaltungen wurden teilweise Summen bis zum Doppelten des o. a. Ergebnisses diskutiert.
Die Schätzung kann m. E. deutlich nach unten korrigiert werden:
Aus dem Bereich KH ist mit nicht mehr als 2.000 Schadenfällen zu rechnen. Ausgangspunkt ist die Zahl von 3.206 Verkehrstoten im Jahr 2016. Darin enthalten waren 895 Tote nach Alleinunfällen.46 Außerdem sind die Fälle abzuziehen, in denen der Tote den Unfall selbst verschuldet hat. Aus dem Bereich der Allgemeinen Haftpflicht sind „nur“ 2.000 Tote zu berücksichtigen (1.000 Arzthaftpflichtfälle und 1.000 weitere Fälle). Zudem ist die durchschnittliche Anzahl der Hinterbliebenen mit allenfalls drei Anspruchsberechtigten anzusetzen, und auch die durchschnittliche Höhe dürfte angesichts der obigen Ausführungen zur Höhe des Anspruchs eher mit EUR 7.500 zu veranschlagen sein. Mithin liegt nach Meinung des Autors der zu erwartende Aufwand bei ca. EUR 90 Mio. Selbst mit einem Sicherheitszuschlag sind m. E. nicht mehr als EUR 100 Mio. Mehraufwand zu erwarten.
Gen Re – Unterhaltsschaden (UHS)
In unserem gerade fertiggestellten Tool für die automatisierte Berechnung von Unterhaltsansprüchen bei Todesfällen haben wir – um die zu erwartende Debatte über die Höhe des Hinterbliebenengeldes zu berücksichtigen – dementsprechend ein pauschales Hinterbliebenengeld in Höhe von EUR 7.500 pro Hinterbliebenem vorgesehen, das aber einfach zu ändern ist.