Die Antragsfragen, die dem interessierten Kunden beim Abschluss eines Versicherungsvertrages vorgelegt werden, gelten seit jeher als zu umfangreich, schwer verständlich und gar geschäftsverhindernd. Dies gilt ganz besonders im Bereich der Lebensversicherung, wo Fragen zur Gesundheit den Antrag dominieren.
Notwendigerweise kollidieren bei den Antragsfragen die berechtigten Interessen der Risikoprüfung mit den gleichermaßen berechtigten Vertriebsinteressen. Während aufseiten der Risikoprüfung die Sorge überwiegt, der Kunde möge nicht gewillt sein, die Fragen zutreffend und erschöpfend zu beantworten, verzweifeln Vertrieb und Kunde gemeinsam auch bei gutem Willen an sehr umfangreichen, schwer verständlichen Fragebögen, die viel Raum für Interpretation lassen. Dies geht so weit, dass immer wieder einmal die Frage gestellt wird, ob auf Antragsfragen nicht einfach verzichtet werden kann.
Im Folgenden soll zum einen beleuchtet werden, was dazu beiträgt, dass Antragsfragen als Problem wahrgenommen werden. Zum anderen werden die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Antragsfragen skizziert.
Entwicklungen der letzten Jahre
Wie vieles im Versicherungsgeschäft unterliegt auch die Gestaltung der Antrags- und insbesondere Gesundheitsfragen Trends und Entwicklungen. Dazu tragen verschiedene Einflussfaktoren bei: veränderte Vertriebswege, neue Produkte, neu zu erschließende Geschäftsfelder, sich wandelnde Kundenbedürfnisse sowie in besonderem Maße auch immer wieder sich verändernde – und dabei typischerweise verschärfende – regulatorische Rahmenbedingungen. Besondere Relevanz für die Gestaltung der Antragsfragen haben das Versicherungsrecht sowie das Datenschutz- und Antidiskriminierungsrecht.
Mit der Reform des Versicherungsvertragsrechts (VVG) 2008 wurde beispielsweise die Regelung zur vorvertraglichen Anzeigepflicht neu gefasst und dabei präzisiert. In § 19 Abs. 1 VVG ist seitdem festgeschrieben, dass der Antragsteller nur solche Gefahrumstände anzuzeigen hat, die für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag zu schließen, erheblich sind und nach denen er in Textform gefragt hat. Damit liegt die Entscheidung darüber, was gefahrerheblich ist, nun ausschließlich beim Versicherer. Das ist für den Kunden vorteilhaft, da er nunmehr keine eigene Abwägung treffen muss, was relevant sein könnte. Der Kunde muss nur noch beantworten, wonach er explizit gefragt wird. Das Risiko, aufgrund einer falschen Abwägung im Schadensfall keine Leistung zu erhalten, sollte damit minimiert werden.
Diese Veränderung passte zu den wachsenden Anforderungen an Transparenz und Verbraucherschutz und hat für mehr Klarheit gesorgt. Gleichwohl hat sie aber auch dazu geführt, dass Versicherer nun sehr lange und ausführliche Fragebögen erstellten, weil eben vieles in der Lebensversicherung risikorelevant sein kann und auf diesem Wege sichergestellt werden soll, dass keine wichtige Angabe unterbleibt. Durch die Aufnahme von Beispielen, insbesondere im Bereich der Gesundheitsfragen, wurde einerseits dem Kunden die Erinnerung erleichtert, andererseits aber auch die Fragestellung in vielen Fällen noch deutlich umfangreicher.
Als wohl logische Gegenreaktion kann in den letzten Jahren ein starker Trend zur Reduktion von Antragsfragen festgestellt werden, der in manchen Fällen einem De-facto-Verzicht auf Fragen gleichkommt. So werden Fragen zusammengefasst, um ihre bloße Anzahl zu reduzieren; die Fragen werden allgemeiner und unspezifischer, um mit möglichst wenig Worten möglichst viel zu erfassen; es wird die Form der Erklärung gewählt, damit der Kunde nur noch einmal antworten muss usw. Antragsfragen sind zum Gegenstand von Wettbewerb geworden, und die Anzahl entscheidet über Sieg und Niederlage im Vertrieb.
Bei besonders stark verkürzten Ansätzen werden üblicherweise Rahmenbedingungen gewählt, die risikobegrenzend wirken, wie z. B. eine Begrenzung des Eintrittsalter und der versicherbaren Summen. Oder die verkürzten Ansätze werden nur in bestimmten Kontexten wie z. B. beim Abschluss einer Baufinanzierung oder im betrieblichen Kollektivgeschäft eingesetzt. In vielen Fällen funktionieren diese Ansätze gut; es gibt jedoch auch Beispiele, in denen eine Risikoprüfung quasi nicht mehr stattfindet und erhebliche Einbußen im Ertrag zu verzeichnen sind.
Trotz dieser Entwicklung ist die Zufriedenheit mit der Gestaltung der Antragsfragen nicht gestiegen. Doch woran liegt das?
Antragsfragen als Problem
Die Schwierigkeiten bei der Beantwortung klassischer Antragsfragen sind auf ganz verschiedene Aspekte zurückzuführen. Drei seien hier beispielhaft genannt:
Zunächst einmal sind viele Antragsfragen schlichtweg schwierig zu beantworten, weil sie sich auf komplexe und komplizierte Sachverhalte beziehen. Die Gesundheitsfragen folgen zum Beispiel typischerweise der medizinischen Systematik der Einteilung nach Organbereichen; diese ist dem medizinischen Laien eher wenig geläufig und kann ihn ohne Weiteres überfordern. Er ist außerdem aufgefordert, eine Information aufzurufen, die im Kontext von ärztlicher Behandlung und damit zu einem ganz anderen Zweck erhoben wurde. Diese Erhebung kann viele Jahre zurückliegen, und die zu versichernde Person konnte damals nicht ahnen, dass er sie noch einmal würde abrufen müssen. Wenn ihm eine Diagnose überhaupt genannt wurde, mag er sie lange vergessen haben. Eine Dokumentation seiner Krankengeschichte liegt ihm typischerweise nicht vor bzw. ist nur mit einigem Zusatzaufwand vom Krankenversicherer zu bekommen.
„Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu finden“, sagte schon Friedrich Nietzsche. Wenn nun also dem medizinischen Laien medizinische Fragen gestellt werden, die sich nicht auf ausschließlich gravierende Erkrankungen beschränken, lange zurückliegende Sachverhalte einbeziehen und sich eines anderen Wortlauts bedienen als dem des behandelnden Arztes, kann man dann immer von einer schuldhaften Falschbeantwortung ausgehen, sobald die Antwort objektiv falsch oder unvollständig ist?
Die nicht medizinischen Sachverhalte mögen auf den ersten Blick einfacher und greifbarer erscheinen. Aber sind sie das wirklich? In vielen Anträgen wird der Antragsteller aufgefordert, den Anteil körperlicher Arbeit im Rahmen seiner Berufstätigkeit anzugeben. Aber was ist eigentlich körperliche Arbeit: das regelmäßige Hantieren schwerer Aktenordner? Die Überwachung von eigenständig arbeitenden Maschinen? Und was ist eigentlich eine „gefährliche“ Sportart?
Eine weitere Hürde bei der Beantwortung von Antragsfragen ist psychologischer Natur. Antragsfragen dienen der Bewertung eines Risikos, ergo beziehen sie sich vorrangig auf riskante, also negative Eigenschaften der zu versichernden Person. Der Antragsteller ist aufgefordert, bereitwillig Auskunft zu geben über seine Erkrankungen, seinen Lebensstil – soweit dieser als ungesund angesehen wird – und die Risiken, die mit seinem Beruf sowie seiner Freizeitgestaltung verbunden sind. Allesamt Aspekte, mit denen sich die meisten Menschen eher ungern auseinandersetzen, die sie möglicherweise verdrängen wollen und wohl nicht bevorzugt auch noch mit anderen Menschen teilen. In besonders guter Stimmung befindet sich der Antragsteller beim Beantworten der Fragen also vermutlich nicht. Dies wird sich fast unweigerlich negativ auf seine Auskunftsbereitschaft und sein Erinnerungsvermögen auswirken.
Der Antragsteller befindet sich auch in einem geradezu moralischen Dilemma: Er ist aufgefordert, sein Gedächtnis anzustrengen, um möglichst vollständig Auskunft über seine Risikosituation geben zu können; je besser ihm dies gelingt, desto teurer wird aber auch der zu erwerbende Versicherungsschutz bzw. umso größer gar das Risiko, dass er am Ende gar nicht versichert wird.
Erschwert wird die Situation weiterhin dadurch, dass bei Vertragsschluss nur die Leistung des Antragstellers, nämlich die zu zahlenden Prämien, sicher feststehen. Die Gegenleistung, der zu erlangende Versicherungsschutz, bleibt zunächst ein abstraktes Produkt und wird erst später und nur unter der Voraussetzung greifbar, dass dem Versicherten im weiteren Verlauf seines Lebens etwas Schlimmes zustößt. Auch diese Konstellation senkt eher die Bereitschaft, große Mühen für den Abschluss auf sich zu nehmen.
Wenn man dagegen eine vermeintlich ähnliche Situation betrachtet, den Abschluss eines Finanzierungsvertrags, so wird dort die Gegenleistung sofort greifbar, indem Geld überwiesen wird und der zu finanzierende Gegenstand erworben werden kann. Die Rückzahlung, also die Leistung des Kunden, erfolgt erst im Anschluss. Die psychologische Hürde, sich für diesen Vertragsschluss anzustrengen und über persönliche Verhältnisse erschöpfend Auskunft zu geben, ist damit deutlich niedriger. Diese Erkenntnis hat sich auch ein Versicherer zunutze gemacht, der seit 2017 dazu übergegangen ist, seine Kunden für jede beantwortete Frage zu bezahlen.
Schließlich stand bisher bei der Gestaltung der Antragsfragen der Inhalt im Vordergrund, weniger ihre Formulierung. Es wurde also viel Energie in die Frage gesteckt, was abgefragt werden sollte, aber nur selten wurde die Frage gestellt, wie man die zu erfragenden Sachverhalte ermittelt. Über die Qualität einer Antwort entscheiden aber nun mal neben dem sachlichen Inhalt der Frage auch das Erinnerungsvermögen des Befragten sowie seine Bereitschaft, korrekt zu antworten.
Insbesondere im Zuge der Reduktion der Antragsfragen, die oftmals eher fälschlich auch als „Vereinfachung“ bezeichnet wird, sind Fragestellungen entstanden, die aus psychologischer Sicht eine richtige Beantwortung eher unwahrscheinlich machen. Über mehrere Zeilen reichende Fragen, lange Aufzählungen von Erkrankungen, die Kombination unterschiedlichster Aspekte in einer Frage sind allesamt nicht geeignet, eine möglichst wahrheitsgemäße und vollständige Beantwortung zu fördern. Untersuchungen im Bereich der Verhaltensökonomie, die zunehmend auch im Versicherungskontext Berücksichtigung finden, zeigen eindrucksvoll, wie ungünstig sich all diese Ansätze auf das Antwortverhalten der Antragsteller auswirken. Wettbewerb wird betrieben über die Anzahl der Antragsfragen; dabei sind für die Antwortqualität die einfache Verständlichkeit und Beantwortbarkeit sowie die Zielgenauigkeit der Fragen als weitaus wichtiger einzustufen.
Aktuelle und zukünftige Entwicklungen
Die stärksten Treiber für Veränderung in der Versicherungsbranche sind aktuell technologische Entwicklungen und die zunehmende Digitalisierung. Dies macht auch vor dem Antragsprozess nicht halt. Die Digitalisierung des Antrags für den Direktvertrieb, aber auch z. B. den Vertrieb über Makler, ist unumgänglich, wenn auch noch lange nicht flächendeckend gelebte Wirklichkeit.
Mit dieser massiven Veränderung geht auch eine erneute Veränderung der Antragsfragen einher. Auf einmal steht der Kunde im Mittelpunkt aller Überlegungen; Prozesse werden aus Kundensicht neu gedacht; „Customer Centricity“ wird als der Schlüssel für den Vertriebserfolg in der Zukunft angesehen. Nicht ganz überraschend erscheint der Antragsprozess, wenn er einmal nur mit den Augen des Kunden betrachtet wird, verbesserungswürdig, um im digitalen Zeitalter bestehen zu können.
Während die ersten Onlineanträge oftmals eine Kopie der analogen Anträge darstellten, sind inzwischen erste Angebote verfügbar, die sich sichtbar auf die Anforderungen der Onlinewelt einstellen. Die Fragen sind kürzer, klarer und leichter verständlich. Ihr Inhalt wird durch Bildsprache unterstützt, sodass sie schneller und auf einer anderen, eher emotionalen Ebene erfasst werden. Im Bereich der Gesundheitsfragen wird auf die Aufzählung der Organbereiche immer häufiger verzichtet; stattdessen liegt mehr Gewicht auf leichter zu merkenden Sachverhalten wie Medikation, Krankenhausaufenthalten oder einzelnen, explizit benannten Erkrankungen. Bei diesem Ansatz erscheinen die Fragensets vergleichsweise kürzer. Dies wird oftmals durch eine zielgerichtetere Fragestellung, bzw. die Minimierung der Abfrage nicht relevanter Aspekte, erreicht. Geradezu ein Paradigmenwechsel findet außerdem statt, indem darüber nachgedacht wird, verstärkt Aspekte abzufragen, die die Risikoeinschätzung positiv beeinflussen. Zum Beispiel wird im Rahmen von Fitnesstarifen erstmals der risikomindernde Effekt von Sport bewertet, während in der klassischen Risikoprüfung nur riskante Ausübungsformen und ihre Verletzungsrisiken Berücksichtigung finden.
Durch all dies wird den sich verändernden Ansprüchen der Kunden Rechnung getragen, wie z. B. die Erwartung eines schnellen und intuitiv zu bedienenden Abschlussprozesses. Ebenso wird aber auch ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt berücksichtigt: Die bisherigen Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Antragsfragen werden oftmals kompensiert durch die am Abschluss beteiligten Vermittler und Makler. Diese erklären die Fragen, kontaktieren bei Unklarheiten den Versicherer und unterstützen allgemein den Abschluss. Spätestens im Direktvertrieb ist der Kunde dagegen auf sich allein gestellt. Dort muss er selber in der Lage sein, den Sinn der Fragen einfach zu erfassen. Andernfalls wird entweder die Antwortqualität nachlassen, weil Fragen auch unbeabsichtigt falsch beantwortet werden, oder der Abschluss bleibt aus, weil der verunsicherte Kunde im Bewusstsein, dass eine falsche Antwort zum Verlust des Versicherungsschutzes führen kann, den Prozess lieber abbricht.
Viele aktuelle Überlegungen zielen darauf, Informationen künftig ganz anders und mit erheblich reduziertem Aufwand für den Kunden zu erheben. Die Möglichkeiten, die neue Technologien in dieser Hinsicht bieten, seien es Fitnesstracker, Gesichtsanalyse mittels Selfie, Sprachanalyse, Analyse von Social-Media-Daten oder die Genom-Analyse, werden derzeit mit großer Intensität erforscht, diskutiert und auf ihre Anwendbarkeit im Versicherungskontext überprüft. Ob diese Methoden irgendwann Antragsfragen obsolet werden lassen, bleibt abzuwarten. Ein großer Vorteil dieser Methoden läge darin, dass der Antragsteller bei ihrer Übermittlung weitgehend außen vor ist: Sein Erinnerungsvermögen, sein Auskunftswille und seine psychische Verfassung bei der Antragsaufnahme wären damit erstmals ohne Belang.
Fazit
Der klassische Antragsprozess findet unter schwierigen Rahmenbedingungen statt. Dass er als Problem wahrgenommen wird, ist daher nicht ohne Weiteres zu ändern. Das Bewusstmachen seiner Schwierigkeiten hilft aber, ihn immer weiter zu verbessern.
Die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich sind nur die ersten kleinen Schritte in die digitale Welt von morgen. Als sicher anzusehen ist wohl, dass auch in Zukunft Versicherer ihre Annahmeentscheidung und Prämienfindung auf individuelle Informationen zum zu versichernden Risiko gründen werden. Ob dabei weiterhin Fragen gestellt oder Informationen auf ganz anderen Wegen erhoben werden und ob die gleichen Parameter für die Annahmeentscheidung ausschlaggebend sein werden, bleibt abzuwarten. Viele Probleme klassischer Antragsfragen könnten mit neuen Ansätzen gelöst werden.
Die kurzfristige Abschaffung von Antragsfragen ist eher nicht zu erwarten. Daher lohnt sich schon jetzt die Auseinandersetzung mit neuartigen Fragestellungen und den Anforderungen des Kunden von morgen an die Formulierung von Antragsfragen. Veränderungen der Antragsfragen im Zeitalter der Digitalisierung sind kein Luxus, sondern Voraussetzung für vertrieblichen Erfolg in der Zukunft.