High-End-Prothesen und Schadensersatz – Was müssen wir künftig dafür zurücklegen?
„Für mich ist es ein riesiger Gewinn“, sagt die 25-Jährige. Sie ist mit dem ReWalk, ein am Körper tragbares roboterhaftes Exoskelett, in der Lage „zu gehen“ und sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Was bedeutet das aber für den Kostenträger? Welche Schritte sind dafür erforderlich und vor allem: Wo geht die Entwicklung hin?
Vor vielen Jahren war das Holzbein als Prothese Mittel der Wahl, und wer kennt ihn nicht, den Enterhaken von Kapitän Hook? Heute stehen die High-End-Prothesen im Vordergrund, und die Wissenschaft diskutiert z. B. bereits darüber, wie Warm- und Kalt-Empfinden mit Prothesen ermöglicht werden kann. Die aktuelle technische Entwicklung ist sicherlich nicht mehr aufzuhalten und wird die Hilfsmittelversorgungen in den kommenden Jahren weiter revolutionieren.
Allein die aktuellen Assistenzsysteme im Auto werden in wesentlichen Teilen für Menschen mit Behinderung umfassende individuelle Anpassungen des Fahrzeuges überflüssig machen. Und da denken wir noch nicht an das autonome Fahren.
Bei der aktuellen Entwicklung einen Überblick zu finden und Chancen und Risiken zu bewerten, ist schwierig. Wir geben einen Einblick.
1. Vorstellung moderner Hilfsmittel
Grundsätzlich geben die gesetzlichen Krankenversicherungen in ihren Hilfsmittelkatalogen vor, welche Hilfsmittel übernommen werden. Für rund 72 Mio. Versicherte sind ca. 32.000 Produkte festgelegt – vom Rollator über computergestützte Exoskelette bis hin zu Blindenhunden.
ReWalk
Das ReWalk Personal 6.0 ist als Hilfsmittel (Hilfsmittelnummer 23.29.01.2001) anerkannt (§ 33 SGB V) und folgender Indikation zugewiesen: „Beidseitige Lähmung der Hüft-, Oberschenkel- und Unterschenkelmuskulatur (Querschnittslähmung mit Paraplegie) und Verlust der Gehfähigkeit.“
Hierbei handelt es sich um ein am Körper getragenes roboterhaftes Exoskelett. Es ermöglicht Menschen mit Rückenmarksverletzungen, wieder aufrecht zu stehen, zu gehen und Treppen zu steigen.
Das System ahmt die natürlichen Bewegungsabläufe der Beine nach und ist grundsätzlich für den ganztägigen Gebrauch konzipiert.
Voraussetzung für die Nutzung des ReWalk ist, dass der Nutzer eine Körpergröße von 160-190 cm hat, das Körpergewicht zwischen 50 und 100 kg liegt und ausreichende Knochendichte, Bewegungsumfänge und Motivation vorliegen.
Nach entsprechendem Training und bei regelmäßiger Nutzung kann der ReWalk dazu führen, dass weniger Medikamente für bestimmte Beschwerden benötigt werden, sich die psychische Verfassung des Nutzers sowie die Blasen- und Darmfunktion verbessern. Darüber hinaus wird Muskelmasse aufgebaut, es kommt zu weniger Spastizität, weniger Körperfett sowie weniger Schmerzen, und eine verbesserte Schmerztherapie wird möglich.
Die Nutzungsdauer liegt bei ca. fünf Jahren. Die Kosten betragen ca. € 100.000. Hinzu kommen die Kosten für das Training bis zur eigenständigen Nutzung in Höhe von rund € 25.000.
HAL – Hybrid Assistive Limb
Eine Alternative zum ReWalk stellt ggf. das HAL dar. Das HAL-System ist allerdings nicht zum Alltagsgebrauch entwickelt, sondern stellt ein Trainings- bzw. Therapiegerät dar. Es ist ein nervengesteuertes Exoskelett, das in der Therapie von Patienten mit Rückenmarksverletzung und zunehmend bei Schlaganfallpatienten eingesetzt wird. Es handelt sich um eine neuromuskuläre Feedbacktherapie, die durch den neuronal gesteuerten HAL Robot Suit ermöglicht wird. Neuromuskuläre Restimpulse des Patienten werden über Sensoren aufgenommen und an das HAL-System weitergeleitet. Dieses erkennt die Impulse und gibt dem Patienten die erforderliche Kraftunterstützung für die gewünschte Bewegung.
Das Therapieziel ist die zunehmende Aktivierung der Muskelimpulse und damit einhergehend die neuronale Rückkopplung. Auf diesen Feedbackeffekt sind die therapeutischen Erfolge zurückzuführen.
In der Regel verbessert sich im Laufe des Trainings das Gehvermögen, da die Bewegungsmuster durch die regelmäßige Wiederholung zurückerlangt werden.
Die Kosten sind vergleichbar zu ReWalk.
Elektronisch gesteuertes Kniegelenksystem E-MAG Active
Das E-MAG Active wurde für Anwender entwickelt, die aufgrund einer Teillähmung oder eines Totalausfalls der kniestreckenden Muskulatur nicht in der Lage sind, ihr Kniegelenk aus eigener Kraft zu sichern.
Während des Gehens misst ein intelligentes Sensorsystem die Position des Beines und schaltet dementsprechend das Orthesengelenk. So soll ein natürliches Gangbild erreicht werden. Auch Anwender, die über keinerlei Funktionen im Knöchelgelenk des Fußes verfügen, sind in der Lage, E-MAG Active zu nutzen.
OrCam für Blinde und Sehbehinderte
Die OrCam MyEye ist ein tragbares Gerät, das Texte lesen, Gesichter und Produkte für Blinde oder Sehbehinderte erkennen kann. Die OrCam ist für Menschen jeden Alters und Sehverlustniveaus geeignet. Ideal ist die Nutzung im Beruf oder in der Schule, zu Hause oder unterwegs.
Das OrCam-System besteht aus einem Minicomputer, der in jede Hosentasche passt. An ihm ist eine Minikamera angeschlossen, die sich am Brillengestell befestigen lässt. Über einen Bügel, der neben dem Brillengestell von der Kamera zum Ohr reicht, gelangt das Audiosignal in den Gehörgang. Ein Kopfhörer muss also gar nicht getragen werden, und trotzdem hört nur der Brillenträger die gesprochenen Worte.
Die OrCam MyEye wurde Ende November 2017 in das Hilfsmittelverzeichnis der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Hilfsmittelnummer: 07.99.04.6001, nach § 139 SGB V aufgenommen. Die Kosten liegen bei rund € 4.800.
Stehrollstühle
Die Kosten für einen Stehrollstuhl betragen rund € 15.000, und die Versorgung erfolgt in der Regel über ein Sanitätshaus mit Garantie.
Der Betroffene hat die Möglichkeit, diesen Rollstuhl im Sitzen zu nutzen, aber auch über eine Aufrichtfunktion in den Stand zu gelangen. Diese Aufrichtfunktion wird elektronisch unterstützt und daher regelmäßig genutzt.
Bei der üblichen Alternative zum Stehrollstuhl durch die Versorgung mit Stehtisch und Rollstuhl wird immer ein Umsetzen von einem zum anderen Hilfsmittel notwendig. Möglicherweise ist hier dann auch die Hilfe Dritter erforderlich. Daher ist von einer weniger regelmäßigen Nutzung auszugehen.
Die gewünschten Effekte – wie größere Eigenaktivität, regelmäßige Stehmöglichkeit ohne pflegerische Unterstützung und Verbesserung der Herz-Kreislauf-Situation – sind mithilfe eines Stehrollstuhls einfacher zu erzielen.
Wheelable
Der Wheelable 3 ist ein Toiletten- und Duschstuhl, der fahrbar und faltbar ist und sich durch eine enorme Wendigkeit auszeichnet.
Mit Kosten von € 999 ist er relativ preiswert und wird von Betroffenen als Reiserollstuhl (passt zwischen die Sitzreihen im Flugzeug), aber auch als Überbrückung in kleinen Bädern, die (noch) nicht umgebaut sind, genutzt.
Bein-Prothesen C-Leg, Genium u. a.
Die maximale Nutzungsdauer solcher Kniegelenksprothesen liegt bei ca. sechs Jahren. Danach muss das Medizinprodukt aus dem Verkehr gezogen werden. Die Kosten beginnen bei ca. € 30.000 (C-Leg) und steigern sich bis zu ca. € 75.000 (Genium X3). Durch die Kosten sind in der Regel die Garantien abgedeckt.
Allerdings sind zusätzliche Kosten für Gehschule usw. in Höhe von € 5.000 bis € 10.000 aufzuwenden. Darüber hinaus benötigt der Betroffene entsprechende Schäfte, um die Prothese nutzen zu können. In der Regel liegen die Kosten für zwei neue Schäfte in der Gebrauchszeit bei ca. € 10.000.
Armprothesen
Auch bei Armprothesen haben wir üblicherweise eine maximale Nutzungsdauer von ca. sechs Jahren. Danach muss das Medizinprodukt aus dem Verkehr gezogen werden. Die Kosten betragen – je nach Versorgung – ab ca. € 70.000 (für Unterarm-Prothesen) bis ca. € 140.000 für Prothesen der Oberarme. Auch hier sind mit diesen Kosten die Wartungs- und Garantiekosten abgedeckt.
Allerdings benötigt der Betroffene entsprechende Schulungen, Trainings usw. Diese Kosten belaufen sich auf Beträge zwischen € 8.000 und € 10.000.
Auch hier werden zur Nutzung der Prothesen Schäfte benötigt. Die Kosten für bspw. zwei Schäfte in der Gebrauchszeit belaufen sich auf ca. € 10.000.
2. Entwicklung
In allen Bereichen der Hilfsmittel sehen wir einen Trend zu schnellen Innovationen und raschen technischen Entwicklungen. So wird aktuell an der Sensibilität von Prothesen (Kalt-Warm-Empfinden) gearbeitet.
Diese technischen Entwicklungen führen zu weiteren Nutzungsmöglichen bei den Betroffenen, die mit erheblichen Vorteilen in der Teilhabe – sozial und beruflich – einhergehen können.
Allerdings kann sich auch eine Erwartungshaltung entwickeln, die nicht in jedem Fall erfüllbar ist, denn nicht nur das Training mit den High-End-Hilfsmitteln erfordert viel Disziplin, sondern auch der Einsatz selbst ist sicherlich von einer Vielzahl von Umfeldfaktoren geprägt. Diese sollten vor der Versorgung ausreichend mit allen Beteiligten abgewogen werden, und nach einer gemeinsamen Entscheidung sollte die Versorgung angegangen werden. Nur so können Über- und Unterversorgungen vermieden werden.
3. Technik in der Therapie
Relativ neu sind technikunterstützte Therapieformen wie die digitale Reha-Nachsorge von Routine mit der CRPS App, die unterschiedliche therapeutische Anwendungen anleitet, oder reFIT Gamo, eine Videospiel-Plattform für individualisierte Therapie.
Hier handelt es sich um Angebote therapeutischer Maßnahmen, die z. T. mit Unterstützung von berufsgenossenschaftlichen Kliniken entwickelt wurden. Allerdings sind die Erfahrungen noch gering und die Einsatzmöglichkeiten scheinen begrenzt.
4. Faktoren für eine gelungene Nutzung
Sowohl für die Nutzung der Hilfsmittel als auch für den Einsatz von digitalen Therapieangeboten ist in der Regel immer eine intensive Schulung und ein entsprechendes Training notwendig. Dies kann ggf. nur in Begleitung von Physiotherapeuten erfolgen.
Entscheidend ist jeweils die Anpassung auf die häusliche und familiäre Situation. Ebenso muss die Möglichkeit der Einbindung in den täglichen und ggf. beruflichen Alltag berücksichtigt werden.
Im Verlauf sollten durch regelmäßige Checks der Einsatz und auch die Regelmäßigkeit der Nutzung geprüft werden. Erforderliche Nachschulungen bzw. Trainings sind umzusetzen.
5. Wünsche und Machbarkeit
Wie beschrieben, orientiert sich die Versorgung der Geschädigten in der Regel am sogenannten Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen. Dies ist für den Patienten häufig nicht transparent. Innovative Versorgungen erfolgen daher regelmäßig im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung und im Behindertensport. Hier besteht entweder über den Kostenträger (BG oder Unfallkasse) der finanzielle oder juristische Hintergrund („Heilverfahren mit allen geeigneten Mitteln“) oder über die Kenntnisse des Betroffenen im Sport mit individualisierter Versorgung die Rahmenbedingungen für innovative Versorgungen.
So entwickeln sich für geeignete Patienten Möglichkeiten, die der Versorgungsstruktur der GKV überlegen sind.
6. Einsparpotenziale
Einsparpotenziale lassen sich immer nur erzielen, wenn die individuellen Faktoren berücksichtigt werden.
Darüber hinaus ist die Überzeugungsarbeit im Spannungsfeld zwischen Anspruch des Geschädigten und wirtschaftlichen Interessen der Vertriebe zu leisten. Dies sichert eine individuelle Versorgung, die in der regelmäßigen Nutzung die erwarteten Effekte mit sich bringt.
7. Ausblick
Die technische und digitale Entwicklung wird weiter voranschreiten und zahlreiche Möglichkeiten eröffnen. Daher ist es wichtig, „am Ball“ zu bleiben, den Markt zu kennen und somit Abwägungen zu ermöglichen.
Hier sollten im Einzelfall professionelle und unabhängige Unterstützer hinzugezogen werden, die an der Versorgungssituation wirtschaftlich nicht profitieren. Hierzu bieten sich die etablierten und von der ARGE Verkehrsrecht anerkannten neutralen Reha-Dienste an.
Über die Autorin
Gabriele Opitz ist Geschäftsführerin der IHR Rehabilitations-Dienst GmbH in Köln. Sie können Frau Opitz telefonisch erreichen unter 0221 29231610 oder per E-Mail: gabriele.opitz@ihr-rehadienst.com.