Künstliche Intelligenz (KI) gewinnt in der Arbeitswelt und unserem täglichen Leben rasant an Bedeutung. Als Schlüsseltechnologie hat sie bereits in viele Bereiche Einzug gehalten – auch in die Versicherungswirtschaft. Roman Hannig sprach mit Herrn Dr. Thomas Wiese, Head of Sales bei arago in Frankfurt, über Chancen und Auswirkungen von KI, aber auch über die Frage, ob Maschinen tatsächlich ein Bewusstsein entwickeln können.
BUaktuell: Was ist KI überhaupt?
Dr. Thomas Wiese: Künstliche Intelligenz ist ein Teilbereich der Informatik, den es eigentlich schon sehr lange gibt. Die Anfänge gehen bis in die 50 er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Das Ziel ist die Automatisierung intelligenten Verhaltens. Es wird dabei häufig zwischen „Narrow AI“, „General AI“ und „Strong AI“ unterschieden.
„Narrow AI“ ist die spezialisierte Lösung von mehr oder weniger einfachen Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Erkennen von Straßenschildern oder das Schachspielen. Hier kommt regelmäßig „Machine Learning“ oder „Deep Learning“ zum Einsatz. Machine Learning und Deep Learning basieren auf neuronalen Netzen, die mittels sehr großer Datenmengen und geeignetem Feedback trainiert werden. Der jüngste Hype um AI (Artificial Intelligence) ist vor allem entstanden, weil in diesem Bereich aufgrund von leistungsfähigeren Rechnern und besserer Datenverfügbarkeit erhebliche Fortschritte gemacht wurden.
„General AI“ hat den Anspruch, unterschiedliche allgemeine Fragestellungen zu lösen. Eine „General AI“ kann also nicht nur eine, sondern viele Problemstellungen beantworten. Dabei kommen verschiedene Formen der AI, also die oben genannten und zusätzlich zum Beispiel „Machine Reasoning“ und „Natural Language Processing“ zusammen. Wir bei arago zum Beispiel verfolgen mit unserer AI-Plattform HIRO auch diesen Ansatz. Damit kommen wir näher an „menschliche Intelligenz“ heran.
Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass in naher Zukunft künstliche Intelligenzen ein Bewusstsein entwickeln oder Emotionen haben werden wie wir Menschen. Die Horrorszenarien, die wir in Hollywood-Filmen wie „Terminator“ sehen, sind also noch lange Science-Fiction und sollten somit aus meiner Sicht auch nicht die öffentliche Diskussion bestimmen. Erst wenn eine KI menschliche Intelligenz erreichen würde, inklusive Bewusstsein und Emotionen und allem was dazugehört, dann würden wir von „Strong AI“ sprechen.
Machine Learning
Hierbei werden in großen Datenmengen der Vergangenheit Muster erkannt und auf zukünftige Fragestellungen angewandt.
BUaktuell: Wie bewerten Sie den Einfluss von KI auf die Arbeitswelt und auf Berufe im Allgemeinen?
Dr. Thomas Wiese: Zunächst einmal finde ich es verblüffend, dass sich die Bewertung von KI in den letzten zwei bis drei Jahren so extrem verändert hat. Vor drei Jahren war KI überhaupt kein Thema und wurde teilweise sogar belächelt. Heute befürchten die gleichen Leute, dass KI alle Menschen arbeitslos macht. Dabei hat sich gar nicht so viel verändert.
Wie ich vorhin schon gesagt habe, ist das Ziel der KI die Automatisierung, also wird es schon einen Einfluss auf die Arbeit geben. Das war aber schon immer so in der Geschichte des technologischen Fortschritts. Wenn Sie heute in die Fertigungshalle eines Automobilherstellers schauen oder einen landwirtschaftlichen Betrieb besuchen, dann sehen Sie dort nicht mehr viele Menschen. So lag der Anteil der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft zu Beginn des vorigen Jahrhunderts noch bei 38 %. Heute sind das nur noch knapp 2 %.
Was eine neue Dimension im Zusammenhang mit der Digitalisierung und KI im Besonderen ist, ist die Tatsache, dass nun auch Akademikerberufe betroffen sind und die Entwicklung sich beschleunigt. Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass es durch KI weniger Jobs gibt, sondern eher mehr. So geht eine Studie des World Economic Forum von 2018 davon aus, dass bis 2022 weltweit zwar 77 Millionen Jobs durch KI wegfallen, aber 133 Millionen Jobs neu entstehen. Diese Dynamik wird dazu führen, dass wir uns als Gesellschaft damit beschäftigen werden, was wirklich menschliche Arbeit ausmacht, also was Maschinen auch auf lange Sicht nicht können werden und wo Maschinen besser sind. Außerdem gibt es ja auch Tätigkeiten, die für Menschen zu stupide, gefährlich oder körperlich zu anstrengend sind, hier könnten Menschen entlastet werden. Darin steckt eine gewaltige Chance.
Allerdings muss sich jeder Einzelne natürlich auch überlegen, wie er seine „Employability“ erhalten kann und sich kontinuierlich weiterbildet. Wir als Gesellschaft – und da beziehe ich mich jetzt mal auf Deutschland und Europa – müssen aber auch sicherstellen, dass auch einige der neuen Jobs bei uns entstehen und nicht nur in den USA und China. Ich sehe hier einen Wettlauf der Gesellschaftssysteme, dessen Ausgang noch offen ist, wobei wir als Europäer aktuell im Hintertreffen sind. Dies ist vor allem anhand der deutlich größeren Investitionssummen in den USA und China erkennbar. Zudem können die Internetgiganten aus den USA und China auf einen schon heute riesigen Datenpool zurückgreifen.
BUaktuell: Wie schätzen Sie die Bedeutung von KI für die gesamte Versicherungsbranche ein?
Dr. Thomas Wiese: Ich glaube, dass das Potenzial von KI in der Versicherungsbranche im Vergleich zu anderen Branchen überdurchschnittlich groß ist. Zum einen liegt das daran, dass viele Prozesse in der Versicherungswirtschaft ja schon digital sind, zum anderen ist der Verbreitungsgrad von KI aus meiner Sicht noch nicht sehr ausgeprägt. Ich kann mir vorstellen, dass KI sowohl in der Akquise von Neukunden, im Underwriting und Risikomanagement und auch in der Schadensbearbeitung eine Rolle spielen wird. Ich erwarte zum Beispiel flexiblere Produkte, individuellere Tarifstrukturen und eine effizientere und schnellere Schadenbearbeitung. Die etablierten Versicherungsunternehmen sind aus meiner Sicht bei der Nutzung von KI noch zu zurückhaltend.
Die Bewertung von KI hat sich in den letzten zwei bis drei Jahren extrem verändert
Es wird spannend, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt, denn ich sehe auch einige interessante Start-ups im Versicherungsbereich, die ähnlich wie im Bankensektor interessante Innovationen hervorbringen und so erheblichen Konkurrenzdruck ausüben könnten. Und auch einige der Internetgiganten aus den USA und China haben den Versicherungsmarkt schon im Visier. Wir bei arago sehen uns bezüglich des Themas KI wie ein Katalysator für etablierte Unternehmen, um die KI-Adaption schnell und in der Breite zu ermöglichen. Geschwindigkeit ist hier ein elementarer Faktor, denn ich gehe davon aus, dass die Entwicklung nicht stetig, sondern sprunghaft verlaufen wird. Wenn es also weh tut, wird es schon zu spät sein.
BUaktuell: KI-Anwendungen erfordern Big Data oder zumindest den Zugang zu großen Datenmengen. Wie bewerten Sie die Chancen für den Einsatz von KI in Versicherungsfeldern, die eben diese Daten nicht zur Verfügung stehen haben? Ein Beispiel ist Deutschland mit 50.000 BU-Neuanträgen im Gesamtmarkt pro Jahr bei mehr als 50 Versicherungsgesellschaften. Wie viele Fälle benötigt eine gute KI, um Zusammenhänge und Muster präzise ableiten zu können und wie müssten diese Daten aufbereitet sein?
Dr. Thomas Wiese: KI ist nicht gleich Machine Learning oder Deep Learning, sondern umfasst sowohl diesen statistischen Ansatz als auch den deterministischen Ansatz des regelbasierten Machine Reasoning.
Unsere Machine-Reasoning-KI benötigt keine großen Datenmengen, wie das beim Machine Learning der Fall ist, um trainiert zu werden. Mit Machine Learning (ML) werden Muster in großen Datenmengen der Vergangenheit erkannt und auf zukünftige Fragestellungen angewandt. Es kann also bei einer aktuellen Aufgabenstellung nur das mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit erkannt werden, was in der Vergangenheit bereits so vorgekommen ist. Deswegen „Narrow AI“ – sehr spezifizierte Anwendungsfälle, die mit großen Datenmengen aufwendig trainiert werden müssen. Beispiel: Soll mit einem ML-Algorithmus, der mit Bedarfsdaten der letzten zehn Jahre trainiert wurde, der Bedarf an Softdrinks für 2019 vorhergesagt werden, wird die Prognose unbefriedigend ausfallen, weil aus den historischen Trainingsdaten nicht der Einfluss der „Sugar-Free“ Kampagnen oder andere aktuelle Einflussfaktoren genügend gewichtet werden.
Im Gegensatz dazu ist die sogenannte „General Artificial Intelligence“ GAI) von arago im Kern ein wissensbasiertes KI-System, das im Grunde drei menschliche Eigenschaften vereint, um autonom Problemlösungen automatisiert in sich ändernden Systemen umzusetzen:
- Verstehen: In einer sogenannten Ontologie, ein formal definiertes Schema einer Wissensrepräsentation, werden Prozess- und Geschäftselemente, mit denen ein Unternehmen operiert, definiert. Die GAI kennt also die Umgebung, in der sie sich bewegt.
- Lernen: In sogenannten Wissensbausteinen (Knowledge Items) werden Expertenwissen, Handlungsanweisungen, Gedankengänge, Best Practices in granularen Stücken abgelegt und bei der Lösungssuche durch Machine-Reasoning-Algorithmen verwendet.
- Lösen: Mit Machine-Reasoning-Algorithmen lassen sich Probleme in unklaren und insbesondere sich ständig verändernden Umgebungen lösen. Die General AI ist damit in der Lage, dynamisch auf den sich fortwährend wechselnden Kontext zu reagieren und den besten Handlungsablauf zu wählen, der laufend mit Machine-Learning-Algorithmen optimiert wird.
General Artificial Intelligence
ist in der Lage, dynamisch auf den sich fortwährend wechselnden Kontext zu reagieren.
BUaktuell: Sollte KI Ihrer Meinung nach prozessunterstützend oder prozessersetzend eingesetzt werden, wenn wir zum Beispiel an das Thema Personenversicherung denken? Wenn ja, warum?
Dr. Thomas Wiese: Wir gehen davon aus, dass alle Prozesse, die durch Menschen erbracht werden, grundsätzlich auch automatisierbar sind. Und alles, was möglich ist, wird wohl irgendwann auch umgesetzt. Das heißt aber nicht automatisch, dass keine Mitarbeiter mehr benötigt werden. Es werden immer auch Menschen benötigt, die die Automatisierungsmaschine weiterentwickeln und mit neuem Wissen „füttern“, und es werden immer mehr Leute benötigt, die Produkte, Prozesse und Organisationen kreativ und innovativ weiterentwickeln. Auch wird der direkte Kontakt zum Kunden wahrscheinlich eine Renaissance erleben, und es wird mehr in die „Customer Experience“ investiert werden.
Zumindest als Zwischenschritt wird es aber sogenannte „Augmented AI“ weiter geben. Besonders wichtig ist hier das Trainieren, Überprüfen und Erklären der Dinge, die eine KI macht. Eine andere Form sind KI-Systeme, die Menschen bei der Durchführung ihrer Tätigkeiten unterstützen, wie zum Beispiel Navigationssysteme oder virtuelle Assistenten wie „Amazon Alexa“.
Viele fordern auch, dass Menschen immer die letzte Entscheidungsinstanz bleiben sollten. Dies wird vor allem indirekt der Fall sein, zum Beispiel durch die Nachvollziehbarkeit und Auditierbarkeit der Handlungen von KI und anschließender Optimierung.
BUaktuell: Sind hochsensible Personendaten überhaupt für den Einsatz von KI geeignet?
Dr. Thomas Wiese: Die Nutzung von KI hängt stark von Umfang und Qualität verfügbarer Daten ab, mit denen Algorithmen trainiert und getestet werden. In vielen Fällen sind personenbezogene Daten, die zur Identifikation einer Person beitragen, nicht für die Analyse notwendig, sodass auf Metadaten/anonymisierte Daten zurückgegriffen werden kann. Für einige Dienstleistungen und Produkte, die auf KI basieren, ist die Bereitstellung hochsensibler Personendaten jedoch unvermeidbar und mitunter sogar von großem Nutzen. Sie wissen ja selbst, dass es in den letzten Jahren erste Versuche gibt, beispielsweise KI im Bereich der privaten Krankenversicherung einzusetzen. Durch die umfassende Analyse personenbezogener Daten soll ein wesentlich genaueres Risikoprofil erstellt und somit dem Versicherten auf Wunsch ein hochgradig individualisiertes Produkt angeboten werden.
Zentral ist es, dass Unternehmen im Umgang mit diesen Daten den regulatorischen Anforderungen nachkommen. So hat insbesondere die EU-Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO) die Verbraucherrechte in dieser Hinsicht gestärkt, sodass fortan die explizite Einwilligung in die Nutzung personenbezogener Daten notwendig ist. Die Einhaltung dieser Verordnung stellt die Unternehmen wiederum vor ganz neue Herausforderungen. So müssen diese nicht nur die eigene Datenverarbeitung kontrollieren und Datenschutzkonformität sicherstellen, sondern auch im Datenaustausch und bei gemeinschaftlicher Bewirtschaftung von zum Teil hochsensiblen Daten die Kontrolle über diese Daten behalten.
BUaktuell: Welche Risiken sehen Sie beim Einsatz von KI?
Dr. Thomas Wiese: Eine in der Bevölkerung sehr weit verbreitete Befürchtung im Zusammenhang mit dem Einsatz von KI wird in einer eigenständig handelnden KI mit Gedanken, Gefühlen und Bewusstsein gesehen. In teils dystopischen Zukunftsvorstellungen wird dabei eine sich gegen die Menschheit wendende Maschine vorgestellt. Diese Vorstellungen sind bisweilen aber nichts anderes als Fiktion, eine Entwicklung in diese Richtung gilt als höchst unrealistisch.
Wesentlich konkretere Risiken ergeben sich jedoch bereits heute für den Einsatz von KI in Unternehmen, z. B. durch unethische oder diskriminierende Ergebnisse aus KI-Systemen. In der Vergangenheit gab es bereits häufiger Fälle, die zu medialer Aufmerksamkeit führten – u. a. musste Microsoft seinen Chatbot „Tay“ nach wenigen Stunden von Twitter nehmen, da er rassistisches Verhalten erlernt hatte. Dieser und andere Fälle zeigen deutlich auf, wie entscheidend die Datengrundlage ist, auf der die KI arbeitet bzw. lernt. Verschiedene Ansätze bestehen bereits, um solchen diskriminierenden Analysen entgegenzuwirken, sei es durch Datenbereinigung, Beschränkungen, Nachbearbeitung der Ergebnisse etc.
BUaktuell: Wie hat KI bereits unsere Welt verändert und was erwartet uns in Zukunft?
Dr. Thomas Wiese: Insbesondere die „schwache“ KI (engl. narrow AI) ist mittlerweile omnipräsent in unserem Alltag – sei es in Form von sprachgesteuerten, intelligenten Assistenzsystemen wie Alexa oder Siri, Alphabets Smart-Home-Produkten Next oder Amazons immer wieder überraschend treffenden Produktempfehlungen. Diese Form der KI zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf die Lösung eines bestimmten Problems fokussiert ist – und diese Aufgabe in aller Regel auch sehr gut löst. Aktuell wandelt sich jedoch zunehmend das Einsatzgebiet von KI vom kleinen Helferlein hin zu einer disruptiven Kraft, die selbst die Fähigkeiten der begabtesten Menschen übertrumpft.
Eindrückliche Beispiele finden sich hierfür bereits in so unterschiedlichen Bereichen wie Denkspielen (AlphaGo), Fahren/Mobilität, Kapitalanalage, Versicherungs- und Gesundheitswesen (z. B. Röntgenbildinterpretation) oder Rechtswissenschaft (z. B. Voruntersuchung/Due Dilligence). Diese von einigen bereits als vierte industrielle Revolution betitelte Entwicklung bietet insbesondere etablierten Unternehmen aus traditionellen Branchen enorme Chancen, wenn sie es schaffen, ihre jahrzehntelangen Branchenkenntnisse und enormen Datenschätze mittels KI zu leveragen.
BUaktuell: Herr Dr. Wiese, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!