Warum lügen und betrügen Menschen? Hierfür ist weder eine bestimmte kriminelle Veranlagung notwendig, noch erfolgt eine Kosten-Nutzen-Abwägung nach dem Simple Model of Rational Crime, so Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomie und Psychologie.
Die meisten Menschen betrügen nur ein klein wenig, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet und auch nur dann, wenn sich lediglich ein leichter Vorteil für sie ergibt, schreibt Ariely in seinem Buch „The (Honest) Truth About Dishonesty: How We Lie to Everyone – Especially Ourselves“. Was hält uns eigentlich davon ab, die Gelegenheit voll auszunutzen? Wir betrügen nur so weit, wie es unser Selbstbild als „ehrliches Individuum” zulässt, schlussfolgert Ariely. Unser Selbstbild darf auf keinen Fall durch unsere (kleinen) Lügen oder Betrügereien leiden.
Meldet beispielsweise ein Versicherter einen zu hohen Schaden, um eine höhere Entschädigung zu bekommen („Schadenübertreibung“), oder stellt er den Verlauf des Ereignisses unwahr dar, um durch diese falschen Angaben doch noch eine Erstattung zu erlangen („Umdefinition“), verwendet er zur Rechtfertigung Argumente, die sein Selbstbild als eine „ehrliche Person“ grundsätzlich nicht ankratzen.
In einer Studie von Köneke et al.1 wurden verschiedene Argumente herausgearbeitet, die von Versicherten „gerne“ angeführt werden, um leichten Betrug zu rechtfertigen und ihr Selbstbild unangetastet zu lassen. Hier ein paar Beispiele:
- Verneinung des Schadens: Aus Sicht des Antragstellers hat sein wertmäßig geringer Betrug keine finanziellen Auswirkungen auf den Versicherer. Dieser wird vielmehr als wohlhabender Eintreiber von Prämien angesehen – nicht jedoch als Erbringer von Versicherungsleistungen.
- Verneinung des Opfers: Der Antragsteller rechtfertigt sein betrügerisches Handeln damit, dass es ja gar kein Opfer gebe. Die anonyme und finanziell robuste Versicherungsgesellschaft passt nicht in sein Bild von einem Opfer, das einen Betrugsschaden erlitten hat.
- Vergleich mit schwerwiegenderen Straftaten: Der Antragsteller spielt den von ihm verursachten Schaden so weit herunter, dass im Vergleich zu sehr viel schwerwiegenderen Betrugsfällen seine Handlung eigentlich niemandem wirklich einen Schaden zugefügt hat.
Die Verhaltensforschung zeigt außerdem, dass eine Person wahrscheinlich eher geneigt ist, eine Schadenmeldung wahrheitsgemäß auszufüllen, wenn sie das Formular unterschreibt, bevor sie die erforderlichen Angaben macht. Dies bedeutet, dass allein schon die Platzierung der Unterschriftszeile in der vom Antragsteller abzugebenden Erklärung zur Korrektheit der Angaben beitragen kann und so hilft, einen Betrug zu verhindern. Nachprüfungen und Sanktionen sind hingegen weniger effektiv, da sie erst einsetzen, wenn der Betrug bereits stattgefunden hat, wie Köneke et al. feststellen. Nachträgliche Überprüfungen können beim Kunden sogar Misstrauen schüren und zu „Vergeltungsmaßnahmen“ in Form einer Kündigung der Versicherung oder – eben wiederum – zu Betrug führen.
Die Versicherungsgesellschaften müssen Wege finden, um die erwähnten Formen des leichten Betrugs zu verhindern: vielleicht durch Intensivierung der Kundenbetreuung, beschleunigte Schadenbearbeitung, transparentere Formulierungen der Vertragsklauseln und ausreichende Unterrichtung der Kunden über die Versicherungsbedingungen und Entscheidungen zu Versicherungsfällen. Wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, zur Gemeinschaft der Versicherten zu gehören, werden sie wohl eher einsehen, dass jedes betrügerische Verhalten auf Kosten der anderen Mitglieder der Gemeinschaft geht, und das wird sie möglicherweise davon abhalten, bei der Meldung von Schäden zu übertreiben oder „Umdefinierungen“ vorzunehmen.
Mit der Verfolgung solcher Strategien könnten die Versicherer dazu beitragen, einen Gesinnungswandel herbeizuführen, wie die Versicherungsbranche allgemein gesehen wird und wie Schadenmeldungen vorgenommen werden. Auch könnten die Versicherer mehr Anreize bieten, um Versicherte von betrügerischem Verhalten bei Antragstellung bzw. Schadensmeldung abzuhalten. Zum Beispiel könnten Kunden in „Mikrokollektiven” zusammengefasst werden, die den Mitgliedern einen Bonus bieten, wenn niemand aus dieser Gruppe über einen bestimmten Zeitraum einen Schaden geltend macht. Ariely fasst solche Ansätze schlicht als Appelle an die Ehrlichkeit der (meistens) ehrlichen Individuen zusammen.
Für weitere Informationen lesen Sie bitte meinen Artikel in Risk Management Review.
Endnote
- Köneke, Vanessa; Müller-Peters, Horst; Fetchenhauer, Detlef (2015) Versicherungsbetrug verstehen und verhindern, Springer Gabler, Wiesbaden